Bildungshaus Schloss St. Martin: 100 Jahre begegnen – begeistern – bilden
Katharina Bergmann-Pfleger, Barbara Stelzl-Marx, Eva-Maria Streit
Im Jahr 2019 feierte das im Westen von Graz gelegene Schloss St. Martin sein 100-jähriges Jubiläum als Bildungshaus. Mit einem Fokus auf die bäuerliche und ländliche Schul- und Erwachsenenbildung bis in die 1950er-Jahre lädt das Traditionshaus heute mit seinem für alle Menschen offenen Bildungsprogramm dazu ein, Angebote für lebenslanges Lernen zu nutzen.
Es verwundert nicht, dass sich um eine Institution wie St. Martin im Laufe der Zeit ‚Mythen‘ zu spannen begannen, die mündlich von Generation zu Generation weitergetragen wurden – und das teilweise bis heute noch werden. Viele von diesen Geschichten kreisten um die NS-Zeit: Der Priester Josef Steinberger, der Gründer des Volksbildungsheimes, sei NSDAP-Mitglied gewesen, munkelte man etwa hinter vorgehaltener Hand. Oder: Der Stollen bei St. Martin sei absichtlich 1944 und 1945 von den Alliierten bombardiert worden, weil dort die Gauleitung hinverlegt hätte werden sollen. „Und stellen Sie sich vor, St. Martin war eine NAPOLA, eine Nationalpolitische Erziehungsanstalt!“ Was stimmte davon? Und vor allem: Wie hatte sich die Geschichte des Bildungshauses in den vergangenen 100 Jahren entwickelt?
Zunächst ein paar Worte zur Genese des Buchprojektes: Nach der Osterspeisensegnung 2015 kamen die Direktorin des Bildungshauses Schloss St. Martin, Anna Thaller, und Barbara Stelzl-Marx ins Gespräch. Anna Thaller meinte: Im Zusammenhang mit dem bevorstehenden 100-Jahr-Jubiläum wäre es wichtig, die Geschichte des Schlosses möglichst lückenlos und objektiv aufzuarbeiten. Bis dahin hatte man etwa von einer wissenschaftlichen Aufarbeitung der Geschehnisse während der NS-Zeit abgesehen. Die Idee für eine Kooperation mit dem Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung (BIK) war geboren.
Ab 2017 führte das BIK ein zweijähriges Forschungsprojekt gemeinsam mit der Universität Graz und gefördert vom Land Steiermark, der Historischen Landeskommission für Steiermark, dem Zukunftsfonds der Republik Österreich und sowie der Stadt Graz durch.
Wie gingen wir dabei vor? Die wichtigste Grundlage bildeten die Originalquellen im St. Martiner Archiv, die als Schatz gehoben werden konnten. Ihre Auswertung wurde durch zahlreiche weitere Archivbestände wie der Abtei Admont, dem Steiermärkischen Landesarchiv oder dem Diözesanarchiv Graz ergänzt. Auch Zeitzeugeninterviews oder Teile der umfangreichen Fotosammlung von Straßgang von dessen Bezirksvorsteher Ferdinand Köberl flossen ein.
Das Ziel war: einen wissenschaftlich fundierten, gut leserlichen und reich bebilderten Band über die Wiege der ländlichen Erwachsenenbildung in Österreich zu verfassen. Auch die Rolle der ‚starken Frauen‘, die St. Martin von Anfang geprägt hatten, sollte betont werden, etwa jene von Emilie Zeidler, die an der Seite von Johann Steinberger das Volksbildungsheim mitaufgebaut, oder von Elfriede Temm, die das „St. Martiner Kochbuch“ – bis heute ein Klassiker – neu aufgelegt hatte. Ein eigener Exkurs sollte sich zudem dem während des Zweiten Weltkrieges errichteten Luftschutzstollen, der erstmals von Viktor Kaufmann mit seinem Team von der TU Graz vermessen und von Claudia Theune von der Uni Wien archäologisch untersucht wurde, widmen. Gemeinsam konnten wir den Stollen mehrmals vor der Winterruhe der Fledermäuse begehen. Für dieses vielfältige Buchprojekt konnte als Verlag die Leykam und für den Satz die Firma graphiczone gewonnen werden.
Auf der Basis der Archivmaterialien ließen sich die erwähnten ‚Mythen‘ richtigstellen: Nein, Josef Steinberger gehörte zu keinem Zeitpunkt der NSDAP an, wenngleich er im April 1938 einen öffentlichen Aufruf für Adolf Hitler in mehreren Zeitungen kundgetan hatte. Die Bombentreffer, die Gut und Kirche St. Martin sowie die Ortschaft Kehlberg im Dezember 1944 und März 1945 zu beklagen hatten, resultierten nicht aus einem absichtlichen Bombardement des Stollens bei St. Martin durch die Alliierten. Und nein, St. Martin war keine NAPOLA, sondern ein „Gauschulungsheim“ für nationalsozialistische Funktionäre. Als „Martinshof“ spielte das Haus für das NS-Regime eine wichtige Rolle: nämlich zur politischen Sicherung der internen Führungsarbeit, die laut Beurteilung der Gauleitung Steiermark von ähnlich großer Bedeutung wie die Rüstungsproduktion selbst gewesen sei.[1]
Diese und viele weitere bis dato unbekannte Einzelheiten – etwa, wie die Kirche St. Martin zu ihrem Namen kam, wo sich die älteste Abbildung des Schlosses heute befindet oder welchen Stellenwert Alkohol innerhalb der Gauschulungsstätte hatte – sind in der im Juni 2019 erschienenen Publikation nachzulesen. Mehr verraten wir nicht, schließlich wollen wir ja neugierig machen und zum Lesen einladen. Nur so viel: Die Publikation widmet sich freilich nicht nur der NS-Zeit, sondern beleuchtet die zentralen Stationen der St. Martiner Schulgründungen und Bildungsgeschichte auf 256 Seiten in sechs Kapiteln, welche die Zäsuren und Kontinuitäten in der 100-jährigen Geschichte des einstigen Volksbildungsheimes und heutigen Bildungshauses nachverfolgen. Ein zentrales Anliegen bestand überdies darin, diese Geschichte neben der wissenschaftlich fundierten Darstellung von Daten und Fakten durch zahlreiche Exkurse, Zeitzeugenzitate, Gästebucheintragungen und insbesondere Abbildungen erlebbar zu machen.
Die Aufklärungs- und Bildungsarbeit, die mit dem Forschungsprojekt, der Publikation und den zahlreichen Vorträgen durch das Autorinnen-Team Barbara Stelzl-Marx, Katharina Bergmann-Pfleger und Eva-Maria Streit geleistet werden konnte, fand Anklang. Neben der medial sehr positiven Rezeption sind es aber die persönlichen Begegnungen, die besonders berühren und zeigen, wie wichtig historische Forschung ist: So bedankte sich etwa bei einer Buchpräsentation im März 2020 eine Kehlbergerin aus dem Publikum, dass sie dank der gerade geleisteten Aufklärungsarbeit nun endlich wisse, wann ihr Opa im Bombenkrieg 1944/45 tatsächlich verstorben sei. „Darüber herrschte in unserer Familie immer Unklarheit. Nun kennen wir die genaue Todesstunde, das ist sehr wichtig für uns.“
Das Buch ist in der Rezeption des Bildungshauses Schloss St. Martin, Kehlbergstrasse 54, 8054 Graz um € 25,– oder im Buchhandel zu erwerben.
Literatur‑ und Quellenverzeichnis
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Katharina Bergmann/Barbara Stelzl-Marx/Eva-Maria Streit, Bildungshaus Schloss St. Martin. 100 Jahre begegnen – begeistern – bilden (= Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung, Sonderband 22, = Forschungen zur geschichtlichen Landeskunde der Steiermark 84, Graz–Wien 2019).
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Robert Engele, Die „Stubenberger Revolte“. Wie stürmisch bei uns die bäuerliche Bildungsarbeit in der Oststeiermark begann – und vor 100 Jahren auf Schloss St. Martin fortgeführt wurde. In: Kleine Zeitung (23. 6. 2019), 34f. [URL: https://austria-forum.org/af/Wissenssammlungen/Damals_in_der_Steiermark/Die_Stubenberger_Revolte].
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Herbert Messner, Begegnen, begeistern, bilden. In: Sonntagsblatt (23. 6. 2019), 12f.
- https://www.hlk.steiermark.at/cms/beitrag/12759590/97168055/
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Schloss St. Martin: https://www.verwaltung.steiermark.at/cms/ziel/100810762/DE/
[1] Vgl. Archiv St. Martin, Schreiben der Gauleitung Steiermark der NSDAP an Direktor Philibert Gragger in Martinshof bei Graz, 27. 11. 1943.
Dr. Katharina Bergmann-Pfleger, geb. 1981 in Graz, absolvierte ihr Magister- und Doktoratsstudium der Deutschen Philologie sowie der Medienkunde an den Universitäten Graz und Wien. Sie sammelte umfangreiche Erfahrungen in der wissenschaftlichen Forschung zu den Themenbereichen österreichische Zeit-, Bibliotheks- und Wirtschaftsgeschichte und veröffentlichte zahlreiche Publikationen, darunter „Der Compass. 150 Jahre österreichische Wirtschaftsgeschichte“ (Compass 2017). Seit 2017 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung, Graz - Wien - Raabs, wo sie zur Zeit u. a. an einem Projekt über den Zukunftsfonds der Republik Österreich arbeitet.
Univ.-Prof. Dr. Barbara Stelzl-Marx, geb. 1971 in Graz, ist Professorin für europäische Zeitgeschichte an der Karl-Franzens-Universität Graz, Leiterin des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung, Graz - Wien - Raabs, und Vizepräsidentin der Österreichischen UNESCO-Kommission. 2020 wurde sie als „Wissenschafterin des Jahres“ ausgezeichnet. Die Zeithistorikerin ist Autorin bzw. Herausgeberin zahlreicher Publikationen, darunter etwa der preisgekrönten Habilitation „Stalins Soldaten in Österreich. Die Innensicht der sowjetischen Besatzung 1945–1955“ und „Besatzungssoldaten. Die Nachkommen alliierter Soldaten in Österreich und Deutschland 1945–1955“ (hg. mit Silke Satjukow). 2018 kuratierte sie die Ausstellung im GrazMuseum „Lager Liebenau. Ein Ort verdichteter Geschichte“.
Mag. Eva-Maria Streit, geb. 1992 in Wolfsberg, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung, Graz - Wien - Raabs, und Doktorandin im Fach Zeitgeschichte an der Karl-Franzens-Universität Graz. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt dabei auf Erinnerungskulturen in Kärnten. Nach dem Studium Lehramt Deutsch und Geschichte arbeitete sie an kulturellen Veranstaltungen und historischen Ausstellungsprojekten, u. a. am Jüdischen Museum Wien und am Goethe Institut Ljubljana, mit.