Eine rätselhafte mittelalterliche Inschriftplatte aus St. Anna am Masenberg im Stadtmuseum Hartberg
Meinhard Brunner, Renate Kohn
Im Rahmen der Recherchen für den ersten Band der steirischen Inschriftenedition[1] wurde die Historische Landeskommission durch ihren Korrespondenten Dr. Norbert Allmer auf eine mutmaßlich sehr alte Steinplatte mit Schriftresten in der Filialkirche St. Anna am Masenberg hingewiesen. Bei einer ersten Aufnahme im Jahr 2006 konnte die in der Sakristei unter einem Schrank gelagerte Platte provisorisch untersucht werden. Dabei bestätigte sich, dass es sich hier um einen der ältesten mittelalterlichen Inschriftenträger der Oststeiermark handeln dürfte. Nachdem die Steinplatte im Frühjahr 2019 in das Stadtmuseum Hartberg transferiert worden war, wurde eine genauere Befundung möglich.
Die rechteckige Platte weist eine Höhe von 194 cm und eine Breite von 73 cm auf. Sie ist erheblich verwittert, möglicherweise abgetreten und außerdem rechts unten leicht beschädigt. Zum schlechten Zustand trägt das eher grobe Steinmaterial mit unregelmäßiger Oberfläche bei. Dadurch ist die am Rand verlaufende eingehauene Umschrift mit nach innen gekehrten Buchstaben in ihrer Lesbarkeit ziemlich beeinträchtigt. Die Schriftgröße beträgt 5 bis 6,5 cm. Der lateinische Text beginnt – ungewöhnlicherweise – rechts oben nach einem Kreuz, verläuft über drei Seiten einzeilig, am oberen Ende dann zweizeilig:[2]
+ ONO[– – –]a) TABb) XYLc) [– – –] TVL[...] / [.]LEGIS · IS/TV · SOLVATV · APO[– – –] NE · TA/NTAREI..d) · / CAT EIUS
a) Lesung der Buchstaben O unsicher, vielleicht auch G oder D. b) Lesung des letzten Buchstabens unsicher, vielleicht S. c) Lesung des zweiten Buchstabens unsicher, vielleicht P. d) Lesung der letzten beiden Buchstaben unklar.
Aufgrund der zahlreichen Textfehlstellen ist die Inschrift wenig aufschlussreich. Es kann daher auch noch nicht gesagt werden, ob es sich hier um eine Grabplatte oder vielleicht doch um eine Altarplatte handelt.
Die Beschriftung ist nicht allzu einheitlich. Besonders auffällig ist das bei der Platzeinteilung: Am Anfang, im rechten und im unteren Schriftband sind die Abstände zwischen den Buchstaben ziemlich groß, gegen Ende des linken Bandes wird die Schrift gedrängter und endet schließlich beim oberen Band sogar zweizeilig. Es scheint so, als hätte der Schrifthauer Probleme bei der Einteilung des verfügbaren Platzes gehabt, zuerst sehr großzügig Raum verschwendet und dann umso mehr sparen müssen.
Die Schrift ist eine romanische Majuskel. Soweit der schlechte Erhaltungszustand eine Beurteilung zulässt, scheint es sich um weitgehend lineare Buchstabenformen mit keilförmig verdickten Schaftenden zu handeln, in die einzelne unziale Formen, vor allem das runde E, eingestreut sind. Die runden Buchstaben – dazu auch das L mit gebogenem Schaft – sind wichtige Datierungskriterien: Die Öffnungen sowohl beim E als auch beim C sind durch gerade Zierstriche verschlossen. Die romanische Majuskel weist keinen fest definierten Formkanon auf, sondern bezeichnet vielmehr eine graduelle Entwicklung von der aus der Antike stammenden Kapitalis, die etwa unseren heutigen Blockbuchstaben entspricht, zur gotischen Majuskel, einer durch Rundungen und unterschiedliche Strichstärken sehr geziert wirkenden Großbuchstabenschrift. Unsere Inschrift ist auf diesem Weg schon vielleicht etwa zur Hälfte fortgeschritten, was wahrscheinlich macht, dass sie gegen Ende des 13. Jahrhunderts oder auch bald nach 1300 entstanden ist.
Diese Datierung befeuert die Frage nach der Herkunft der Inschriftplatte. Klar ist, dass ihre Deponierung in der Sakristei von St. Anna am Masenberg, wo sie als Ablage für Blumenvasen, Flaschen u. ä. diente, nur eine Zwischenstation darstellte. Bis zur Kirchenrestaurierung 1982 soll sie sich in einem Vorbau außen an der Südseite der Apsis befunden haben.[3] Aber diese Stelle kommt nicht als ursprünglicher Standort in Frage, er ist vielmehr im Kircheninneren anzunehmen. Und das kann auch nur eine sekundäre Verwendung gewesen sein, denn die Inschriftplatte ist erheblich älter als das Gotteshaus. Die Filialkirche St. Anna am Masenberg wurde Mitte des 15. Jahrhunderts gebaut, 1453 erstmals urkundlich erwähnt und um 1499 erweitert.[4] Unsere Platte stammt aber, wie oben dargelegt, aus der Zeit um 1300.
Wo befand sich also ihr Originalstandort? Buchstäblich naheliegend wäre es, an einen Vorgängerbau, etwa eine Kapelle, der Anna-Kirche zu denken. Ohne stichhaltigen Beleg – die Inschriftplatte allein reicht dafür nicht – bleibt das bis auf Weiteres freilich nur eine erste Theorie. Auch die umliegenden Pfarrorte Hartberg und Pöllau kommen als Ursprung in Betracht, zumal ihre Kirchengeschichte weit genug zurückreicht. Sollte sich darüber in absehbarer Zeit mehr sagen lassen, wird dieser Beitrag eine entsprechende Ergänzung erfahren.
Anmerkungen
[1] Meinhard Brunner/Helfried Valentinitsch† (Bearb.), Die Inschriften der Politischen Bezirke Hartberg-Fürstenfeld und Weiz. Herausgegeben von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und der Historischen Landeskommission für Steiermark (= Die Deutschen Inschriften, Wiener Reihe 6. Band: Steiermark, Teil 1) [in Vorbereitung].
[2] Die Transkription folgt den in der interakademischen Editionsreihe „Die Deutschen Inschriften“ üblichen Editionsregeln (Auszug): Majuskelschriften sind in Großbuchstaben wiedergegeben; der Zeilenumbruch wird durch Schrägstrich angezeigt, Textverlust durch Beschädigungen u. ä. wird mit eckigen Klammern markiert, ist die Länge einer Fehlstelle ungewiss, werden drei Gedankenstriche gesetzt. Siehe: Walter Koch, Bearbeitungs- und Editionsgrundsätze für die „Wiener Reihe“ des deutschen Inschriftenwerks, Österreichische Akademie der Wissenschaften (Wien 1991).
[3] Freundliche Mitteilung von Herrn Frühwirt, St. Anna am Masenberg.
[4] Vgl. Heimo Kaindl/Alois Ruhri, St. Anna am Masenberg (= Christliche Kunststätten Österreichs 247, Salzburg 1994), 2f. – Das am Wallfahrerweg von Hartberg nach Pöllauberg und weiter nach Mariazell gelegene Gotteshaus wurde im Zuge der spätmittelalterlichen Wallfahrtsblüte offenbar schon wenige Jahrzehnte nach seiner Errichtung wieder zu klein. Die Jahreszahl 1499 innen vor der Triumphbogenwand weist auf einen Neubau oder eine gravierende bauliche Veränderung hin. In der Barockzeit dürfte St. Anna als Wallfahrtsziel nur mehr beschränkte Bedeutung gehabt haben.
Mag. Meinhard Brunner, geb. in Judenburg, Studium der Geschichte und Volkskunde an der Karl-Franzens-Universität Graz. Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Historischen Landeskommission für Steiermark.
Forschungsschwerpunkte: Sammlung und Edition der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Inschriften der Steiermark; Britische Militärgerichtsbarkeit in Österreich 1945–1955.
Mag. Dr. Renate Kohn, geb. in Wien, Studium der Geschichte und Kunstgeschichte an der Universität Wien. Stellvertretende Direktorin des Instituts für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.
Forschungsschwerpunkte: Edition der Inschriften des Wiener Stephansdoms; Fürstliche Repräsentation und Paläographie (mit Schwerpunkt Inschriftenpaläographie).