„ist gewaltig artlich gewest“ – Die Anfänge des professionellen Theaters in Österreich
Hannah Barmüller, Christian Neuhuber, Kathrin-Sophie Stalujanis
In der forschungsfreundlichen Stiftsbibliothek Rein hat sich die älteste Abschrift eines Repertoirestücks des deutschsprachigen Berufstheaters erhalten. Versehen mit einem Frontispizbild des Titelhelden, ist dieses Dedikationsmanuskript das einzigartige Relikt einer Aufführungsserie englischer Komödianten, die in Graz 1607/1608 ihre spektakuläre Bühnenkunst zeigten.[1]
Englische Komödianten im deutschen Sprachraum
Professionelle Schauspieltruppen aus dem Umfeld des elisabethanischen Theaters finden sich seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert auch in deutschen Gebieten, wo sie Sprachbarrieren zunächst durch drastischere Körperlichkeit, Simplifizierungen der Handlungen, Musik, Tanz und akrobatische Einlagen überwanden. Das bedeutendste Ensemble dieser Zeit um Robert Browne und Thomas Sackville trat 1592 in die Dienste des Herzogs und Dramatikers Heinrich Julius von Braunschweig und Lüneburg, eines Schwagers des schottischen, später auch englischen Königs Jakob I. Nach der Trennung Brownes von Sackville, der sich als ‚Jan-Bouset‘-Darsteller (eine clowneske Narrenfigur) in Wolfenbüttel einen Namen machte, spielte die Truppe vor allem unter der Schirmherrschaft des Landgrafen Moritz von Hessen und ist in den Folgejahren in mehreren Reichsstädten, aber auch in den Niederlanden und Frankreich belegt. Präsentierte sie ihr Repertoire anfänglich in englischer Sprache, konnte sie bald auch – beginnend mit den komischen, teils improvisierten Zwischenspielen – deutsche Aufführungsteile bieten. Seit zumindest 1603 war der Londoner John Green Mitglied und Co-Prinzipal der Truppe, die er 1607 nach Brownes Rückkehr in die Heimat übernahm und gen Süden in katholische Lande führte.
Die Grazer Gastspiele 1607 und 1608
Im November dieses Jahres finden wir die Truppe in Graz, wie wir aus einer Rechnungsanweisung über 300 Reichstaler und einem Brief der Erzherzogin Maria Anna an ihren Gatten, den späteren Kaiser Ferdinand II., der mit viel Pomp zum Reichstag nach Regensburg abgereist war, wissen. Ferdinand selbst hatte Greens Truppe in die Steiermark berufen, die ihm kurz darauf nach Passau und wohl auch Regensburg folgte, um zur Faschingszeit 1608 wieder in Graz zu spielen, wo die Festlichkeiten anlässlich der Verlobung der Erzherzogin Maria Magdalena mit dem Großherzog von Florenz, Cosimo de' Medici, auch standesgemäße theatrale Darbietungen umfassen sollten. Über dieses zweite Gastspiel sind wir außergewöhnlich gut informiert durch einen Brief der jungen Verlobten an ihren noch immer in Regensburg weilenden Bruder Ferdinand, den sie am Aschermittwoch nach Ende der Spielzeit geschrieben hatte und zwei Tage später mit einem Zusatz versah, in dem über ein Duell eines Schauspielers („der mensch in langen roten harr, der alleweil das khlein geigell geigt“) berichtet wird, bei dem dieser hinterrücks verwundet und in weiterer Folge am Hof gepflegt worden war.
Theaterbrief der Erzherzogin Maria Magdalena
„Mueß E[uer] L[iebden] gleich auch schreiben, was die Engellender für comedi gehabt haben“, berichtete sie begeistert von den zehn Stücken, die zwischen Freitag nach Lichtmess und Faschingsdienstag (8. bis 19. Februar) am Hof aufgeführt worden waren, darunter Christopher Marlowes berühmte Faust-Tragödie und vielleicht auch William Shakespeares Kaufmann von Venedig („Von dem Juden“). Sensationell müssen diese Auftritte der Theaterprofis im Habsburgerreich tatsächlich gewesen sein. Unter Schauspiel verstand man bis dahin die vergleichsweise steifen Deklamationen der Jesuitenbühne, allenfalls noch die biederen Laienaufführungen zu den Hochfesten, mit Rollen, die mehr vorgetragen als agiert wurden. Nun aber sah das höfische Publikum wirkliche Theaterkunst, Weltdramatik, in Szene gesetzt von Berufsakteuren, die alle erdenklichen Mittel wirken ließen, um staunen zu machen – immerhin spielten sie für ihren Lebensunterhalt. Und das mit sichtlichem Erfolg: „[A]m Erchtag“, also am Dienstag, den 12. Februar 1608, so die 18-jährige Erzherzogin weiter, „haben sy gehabt ‚Von niemandts und iemandt‘, ist gewaltig artlich gewest.“
Handschrift 128
Es ist ein ausgesprochener Glücksfall für die Erforschung des Berufstheaters im 17. Jahrhundert, dass sich gerade eines der erfolgreichsten Repertoirestücke dieser Zeit in der Bibliothek des Stifts Rein erhalten hat, gibt es doch wertvolle Einblicke in Machart und Wirkeffekte der frühen deutschen Adaptionen englischer Dramatik. Die Handschrift, die unter Abt Marian Pittreich 1758 aus den Beständen der Bibliotheca Ferdinandea angekauft wurde, ist in blindgeprägtes Kalbsleder über Pappe gebunden, mit Wappensupralibros des Erzherzogs und Bayerns. Auf der vorderen Spiegelseite ist ein ganzseitiges farbiges Frontispizbild eingeklebt, versehen mit dem Titel „Nemo“ und der lateinischen Devise „Neminis Virtus ubique laudabilis“ [Niemandes Tugend ist überall lobenswert]. Der Buchblock (31,5 x 20,5 cm) umfasst 56 fadengebundene Folio-Blätter (XXV50 + III56) und ist vermutlich von zwei Händen beschrieben. Das Theaterstück selbst (f. 2r–45v) stammt von einer teils flüchtigen, eindeutig oberdeutsch schreibsozialisierten Kanzleihand, die bei der Niederschrift (nach Vorlage und wohl auch Diktat) eine deutliche bairisch-österreichische Färbung einbringt. Dieser Teil in Kursive wird also ebenso wenig von Green zu Papier gebracht worden sein wie Titel, Rollenverzeichnis (f. 46v–47r) und Epilog (f. 45v–46r) mit denselben Merkmalen, auch wenn die graphisch sehr ähnliche nachgestellte Unterschrift des Prinzipals mit einem ‚manu propria‘-Schnörkel Eigenhändigkeit insinuiert.
Schauspielerporträt
Vermutlich von einer weiteren Hand stammt ein mit Gelehrsamkeit renommierendes Widmungsgedicht an Erzherzog Maximilian, der seinen älteren Bruder Ferdinand während dessen Abwesenheit in der Hauptstadt Innerösterreichs vertrat. Green stellte es dem Dedikationsexemplar voran und firmierte die lateinischen Verse als dienstbeflissenster „Nob[ilis] Anglus“ in Antiqua. Er selbst wird es auch sein, den uns das Bild auf der Innenseite des vorderen Buchdeckels in der Titelrolle des Nemo zeigt, in dessen charakteristischer Hose von den Knien bis zum Hals, weil er ein ‚no-body‘ war – einer der vielen Sprachwitze des Stücks, die nicht adäquat übertragen werden konnten. Noch etwas fällt beim Vergleich dieses Porträts eines hageren, rotbärtigen Mannes mit dem Titelbild des Drucks der englischen Vorlage auf: Hält No-body standesgemäß eine Narrenpritsche, also eine Art Klatsche, in seiner linken Hand, weist Nemo seinem Betrachter einen Rosenkranz und ein Brevier. In Graz, einem Epizentrum der Gegenreformation, war es opportun, katholische Rechtgläubigkeit zu demonstrieren; sie war der Schlüssel für weitere Engagements im habsburgischen Umfeld.
No-body and Some-body
Greens Gabe an seinen Mäzen war eine deutsche Übertragung von No-body and Some-body, einem 1606 in London erstmals gedruckten Stück aus den 1590ern. Von niemandts und jemandt ist somit das einzige Stück aus der Frühzeit des englischen ambulanten Theaters, das uns in drei Fassungen vorliegt: dem englischen Basistext, der Reiner Fassung von 1608 und einer Adaption aus dem anonym 1620 erschienenen Sammelband Engelische Comedien vnd Tragedien, hier unter dem Titel Die Schöne lustige Comoedia / von Jemand und Niemand abgedruckt. Der gemeinsame Inhalt dieser Versionen teilt sich in einen ernsthaften Haupthandlungsstrang und eine davon weitgehend unabhängige komische Nebenhandlung. Die Staatsaktion, die auch der nachgetragene Titel der Handschrift anspricht („Ein Warhafftige vnndt glaubwirdige History vnnd geschicht, wie es sich vor villen Jarrn In Engllandt mit Khünig Arzngall vn[d] seinen dreyen Prüder zugetragen“), ist der Historia regum Britanniae des Geoffrey von Monmouth entnommen und handelt von Elidor, der dreimal zum König gekrönt wurde: erstmals, als sein tyrannischer Bruder (Arzngall) bei einem Putsch abgesetzt wird, dem er später wieder den Thron übergibt, dann nach dessen Tod und schließlich nach einem von zwei weiteren Brüdern angezettelten Bürgerkrieg, den diese nicht überleben. Im Zentrum der Nebenhandlung steht der barmherzig-naive Niemand („Niemantß ist frumb, Kheisch, vnd erlich“), der dennoch für all die Verbrechen in der Stadt verantwortlich gemacht wird, die eigentlich Jemand begangen hat. Die Komik entfaltet sich über die bereits in Homers Odyssee literarisierte Diskrepanz zwischen Namen und Indefinitpronomen, die hier sozialkritisch funktionalisiert wird. Doch letztlich kann Niemand seine Unschuld beweisen, Jemand wird als Betrüger überführt und das Stück endet mit einem Bankett zu Niemandes Ehren, der seine Schlussrede an das Publikum mit zahlreichen (auch anzüglichen) Anspielungen spickt.
Original und Adaptionen
Übersetzer und Bearbeiter dieser Fassung dürfte Green selbst sein, der sie in der Widmung entsprechend „meos ... labores“ und im Epilog „mein Historiam“ nennt. Deutlich ist dem Stück das Bemühen um eine adäquate deutsche Bühnensprache anzusehen, die freilich nur bedingt mit dem englischen, zwischen Prosa und Blankvers wechselnden Vorbild konkurrieren kann. Auch wenn der Aufbau prinzipiell übernommen wird, verlagert sich der Schwerpunkt vom Ernsten zum Komischen, das nun auch die (erheblich gestutzte) Königsgeschichte überformt. Neben großzügigen Streichungen und Simplifizierungen finden sich auch eigene Einfälle, so etwa die im Habsburgerreich spannendere Erwähnung der Türken oder zahlreiche gegenreformatorische Anspielungen wie „Bei Niemants findt ich ein Petpueh, ein Rosenkhranz“, auf die sich das Frontispizbild bezieht. Noch viel deutlicher weicht die in Akte unterteilte, affektbetonte Druckfassung von 1620 ab, in der der Handlungskonflikt vor allem von den Ehefrauen der Herrscher ausgetragen wird und in die die komischen Szenen nur mehr eingestreut sind. Sie waren dann auch Vorlage für Isaac Vos' niederländischen Reimschwank Iemant en Niemant (1645).
Edition
Erstmals ediert wurde das Reiner Manuskript von Ferdinand Bischoff 1899 in den Mittheilungen des Historischen Vereins für Steiermark. Seine verdienstvolle Transkription, die dieses wichtige Theaterwerk der Forschung erst bekannt und verfügbar machte, ist auch Vorlage für die Ausgaben von Willi Flemming (1931), der weitere Anpassungen – vor allem bei der Interpunktion – vornahm, und Heinz Kindermann (1966). Nicht mehr zeitgemäß sind allerdings einige der (nur spärlich erläuterten) Editionskriterien Bischoffs, so seine Tendenz, Majuskeln und Minuskeln der damals aktuellen Schreibung anzupassen, handschriftliches v/w durch u zu ersetzen, Abkürzungen bzw. Kontraktionen ohne Kennzeichnung aufzulösen oder unmarkierte Emendationen vorzunehmen. Da zudem nicht wenige Verlesungen und Auslassungen zu finden sind, manche Grapheme beinahe konsequent falsch interpretiert werden (z als tz bzw. cz, s als ß), Seitenangaben fehlen und Wörter in Antiqua nicht gekennzeichnet sind, würde eine Neuedition nach zeitgemäßen editorischen Vorgaben lohnen.
Von niemandts und jemandt blieb lange eines der Zugstücke der Truppe, die auch während der Wirren des Dreißigjährigen Kriegs großteils am Kontinent ausharrte. Als Green starb, übernahm 1626 Brownes Schwiegersohn Robert Reynolds die Leitung, nach dem Krieg schließlich wurde sie unter anderem von William Roe und John Waite angeführt. Im Juli 1651 brachten englische Komödianten Jemand und Niemand noch einmal zu Ulm auf die Bühne; es wird sich bei dieser Truppe wohl um die letzten Nachfolger des ehemaligen Green'schen Ensembles handeln.
Literaturverzeichnis
- Ferdinand Bischoff, ‚Niemand und Jemand‘ in Graz im Jahre 1608. In: Mittheilungen des Historischen Vereines für Steiermark 47 (1899), 127–192.
- Johannes Bolte, Eine Hamburger Aufführung von ‚Nobody and Somebody‘. In: Jahrbuch der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft 41 (1905), 188–193.
- Johannes Bolte (Hg.), Niemand und Jemand. Ein englisches Drama aus Shakespeare's Zeit. Übersetzt von Ludwig Tieck. Mit einer Einleitung von J. B. Weimar (1894).
- Peter Brand/Bärbel Rudin, Der englische Komödiant Robert Browne (1563–ca. 1621). Zur Etablierung des Berufstheaters auf dem Kontinent. In: Daphnis 39, H. 1/2 (2010), 1–134.
- Willi Flemming (Hg.), Das Schauspiel der Wanderbühne (Leipzig 1931).
- Ruth Gstach, Die Liebes Verzweiffelung des Laurentius von Schnüffis. Eine bisher unbekannte Tragikomödie der frühen Wanderbühne. Mit einem Verzeichnis der erhaltenen Spieltexte (Berlin/Boston 2017).
- Ralf Haekel, Die Englischen Komödianten in Deutschland. Eine Einführung in die Ursprünge des deutschen Berufsschauspiels (Heidelberg 2004).
- Franz Ilwolf, Die Anfänge des deutschen Theaters in Graz. In: Mittheilungen des Historischen Vereines für Steiermark 33 (1885), 124–149.
- Heinz Kindermann/Margret Dietrich (Hgg.), Dichtung aus Österreich. Drama (Wien/München 1966).
- F. J. Kramer, The Origin of the Manuscript Version of ‚Niemand und Jemand‘. In: Monatshefte für Deutschen Unterricht 37, Nr. 4/5 (1945), 88–95.
- Jerzy Limon, Gentlemen of a Company. English Players in Central and Eastern Europe 1590–1660 (Cambridge 1985).
- Johannes Meissner, Die Englischen Comoedianten zur Zeit Shakespeares in Oesterreich (Wien 1884).
- Irene Morris, A Hapsburg Letter. In: Modern Language Review 69 (1974), 12–22.
- Orlene Murad, The ‘Theatre Letter' of Archduchess Maria Magdalena: A Report on the Activities of the English Comedians in Graz, Austria, in 1608. In: Mosaic 10, Nr. 4 (1977), 119–131.
- Alfred Noe, Spieltexte der Wanderbühne. Bd. VI: Kommentar zu Bd. I-V (Berlin/New York 2007).
- Bärbel Rudin/Otto G. Schindler, ‚John Green‘. In: Alena Jakubcová/Matthias J. Pernerstorfer (Hgg.), Theater in Böhmen, Mähren und Schlesien. Von den Anfängen bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. Ein Lexikon. Neu bearbeitete, deutschsprachige Ausgabe. In Zusammenarbeit mit Hubert Reitterer, Bärbel Rudin, Adolf Scherl und Andrea Sommer-Mathis (Wien 2013), 231–233.
- Willem Schrickx, English Actors at the Courts of Wolfenbüttel, Brussels and Graz During the Lifetime of Shakespeare. In: Shakespeare Survey 33 (1980), 153–168.
- Walter Steinmetz, Handschriften-Verzeichnis der Stifts-Bibliothek zu Rein (Manuskript Graz 2014).
- Hans Wagner, Brief der Erzherzogin Maria Magdalena (Transkription). In: Graz als Residenz. Innerösterreich 1564–1619. Katalog der Ausstellung (Graz 1964), 271–274.
Anmerkungen
[1] Der Beitrag entstand im Rahmen des germanistischen Proseminars Das professionelle Theater im Habsburgerreich zwischen 1600 und 1750 (WS 20/21) an der Universität Graz unter der Leitung von Christian Neuhuber.
Hannah Barmüller, BA, geb. 1997 in Wien; studiert Romanistik und Germanistik an der Karl-Franzens-Universität Graz; seit Herbst 2019 Studentische (Projekt-)Mitarbeiterin am Institut für Romanistik sowie am Zentrum für Kulturwissenschaften.
Assoz. Prof. Mag. Dr. Christian Neuhuber, geb. 1970 in Gmunden, stellvertretender Leiter des Franz-Nabl-Instituts für Literaturforschung der Universität Graz. Arbeitsschwerpunkte von der Literatur des Barocks bis zur Gegenwart unter besonderer Berücksichtigung intermedialer Fragestellungen, der Editionsphilologie, Theaterwissenschaft und bairisch-österreichischer Dialektkultur.
Kathrin-Sophie Stalujanis BA, geb. 1996 in Wien; studiert Germanistik an der Karl-Franzens-Universität in Graz.