St. Georgen bei Neumarkt. Die Befunde der Kirchengrabung im Kontext der steirischen Mittelalterarchäologie – Eine Buchneuerscheinung
Astrid Steinegger
Als im Sommer 1849 Richard Knabl nach St. Georgen bei Neumarkt kam, war sein Ziel ein potenziell keltischer Inschriftenstein, welcher „aus der Schwelle des Eingangsthores“[1] einer Kirche ausgegraben worden war.[2] Der Stein übertraf seine Erwartungen und stellte sich als römischer Meilenstein der konstantinischen Zeit heraus,[3] darüber hinaus hingegen konnten die Reste der erst kurz zuvor abgebrannten Kirche sein Interesse nicht wecken. Nur wenige Jahre später waren allerdings gerade sie das Ziel von Carl Haas. Im Zuge seiner Forschungsreisen, die zu seinen Aufgaben als erster Landesarchäologe der Steiermark gehörten, gelangte er im Sommer 1858 in die Gegend um Neumarkt und beschreibt die Umstände vor Ort wie folgt: „St. Georgen bei Neumarkt. Ruine einer kleinen, durch Brand vernichteten romanischen Kirche. Die Anlage war einschiffig mit halbrunder Altarnische. Das Ganze gegenwärtig ein wüster Trümmerhaufen.“[4] Die bereits maroden Mauern verfielen, verschwanden unter Erde und Bewuchs, und über einen Zeitraum von rund 150 Jahren interessierte sich kaum jemand für die Kirche. Es wurde spekuliert über Pestgräber und römische Mauerreste,[5] selbst eine frühchristliche Andachtsstätte[6] wurde nicht ausgeschlossen. Doch alles, was am Ende blieb, war ein Hügel, den einige wenige unter dem Namen „Kirchbichl“ kannten, und ein Ortsname, den kaum jemand hinterfragte.
Doch im Jahr 2004 änderte sich die Situation. Für die Autorin begann alles mit wenigen Seiten Text in einem Buch.[7] Für das Bundesdenkmalamt begann alles mit einem, auf einer Grillfeier in Mauerbach vorgestellten Dissertationsprojekt, dessen Grundlage knapp zusammengefasst eine urkundliche Nennung von 1146 und ein Kirchengrundriss im Franziszeischen Kataster bildeten. Und für den Grundeigentümer begann alles mit einem unangekündigten Besuch und dem von einer jungen Dame geäußerten Wunsch, den Hügel hinter seinem Haus umgraben zu wollen. Sie alle ließen sich erstaunlicherweise auf ein Vorhaben mit ungewissem Verlauf und noch ungewisserem Ende ein. Das Ergebnis liegt nun vor. Die Leserin bzw. der Leser werden sich – dem Titel des Buches entsprechend – eine Publikation mit rein archäologischem Inhalt vorstellen, doch weit gefehlt. Die vorliegenden 324 Seiten des 88. Bandes der Forschungen zur geschichtlichen Landeskunde der Steiermark sollen dem geneigten Publikum die heute zugängliche Kirchenruine als Objekt mit zahlreichen Facetten näherbringen.
Bei der Georgskirche, die in einer vom 10. Mai 1146 datierenden Urkunde erstmals genannt und durch den Zusatz in Chrazluptal und das vermerkte Patrozinium auch eindeutig lokalisier- und identifizierbar ist, handelt es sich um eine in ihrem Kern zumindest frühromanische Kirchenanlage. Durch die im Zuge der Untersuchungen von 2007 und 2008 gewonnenen archäologisch-bauhistorischen Erkenntnisse und datierbares Fundmaterial offenbart sich den interessierten Leserinnen und Lesern nun ein mehrfach adaptierter Sakralbau, welcher in seinem Grundriss auf einen einfachen Saalraum mit stark nach Süden verzogenem Rechteckchor zurückgeht. Baulich besonders hervorzuheben sind die, wohl auf geänderte liturgische Vorstellungen zurückzuführende, Vergrößerung des Presbyteriums durch eine Apsis und der Anbau einer Sakristei spätestens gegen/um 1200 sowie die barockzeitliche Umgestaltung des Saalraumes und die Errichtung einer südlichen Außenkapelle, welche eine Verlegung des Zugangs zur Kirche von der Süd- an die Westseite zur Folge hatte. Das Kapitel zu den archäologisch-bauhistorischen Befunden behandelt jedoch nicht nur die über Jahrhunderte andauernde Bau- und Nutzungsgeschichte, sondern auch die archäologisch-anthropologische Analyse von 46 im Umfeld der Kirche freigelegten, nahezu ausnahmslos beigabenlosen Bestattungen. Diese legen nahe, dass der später als Filialkirche genutzte Sakralbau zu Beginn das Bestattungsrecht besaß, was auf seinen ursprünglich eigenkirchlichen Status zurückzuführen sein dürfte. Innerhalb des partiell freigelegten Friedhofes lassen sich eine frühneuzeitliche von einer hochmittelalterlichen Belegungsphase trennen. Für letztere, d. h. die frühen Gräber, bietet sich eine Datierung in den Zeitraum von der Errichtung des heutigen Kernbaus bis etwa zur Übergabe an den Bischof von Gurk (gegen/um 1200) an. Bereichert wird dieses Kapitel zudem durch einen Beitrag zu den in den Mauern der Kirche verbauten und am Hof des Grundeigentümers vorhandenen Resten römischer Grabdenkmäler, die auf eine naheliegende römerzeitliche Siedlungsstelle hinweisen. Unter anderem wird hierbei ein bereits vor seiner Vermauerung im Triumphbogenfundament der Kirche mehrfach adaptierter Grabaltar mit Reliquienloculus vorgestellt, der nicht sichtig im Bereich des Triumphbogens verbaut ist. Überlegungen zu einem, durch den archäologisch-bauhistorischen Befund und typologische, überregionale Vergleiche indizierten frühen Errichtungszeitpunkt der Kirche, der deutlich vor der urkundlichen Erstnennung des Jahres 1146 liegen dürfte, werden durch die Auffindung eben dieser Spolien gestärkt.
Dem Kapitel zu den archäologisch-bauhistorischen Befunden sind – gleichsam als Erweiterung des Kernthemas – weitere zur Forschungsgeschichte um die Georgskirche sowie zur steirischen Kirchenarchäologie der vergangenen Jahrzehnte mit Schwerpunkt auf dem Hochmittelalter zur Seite gestellt. Zudem wird auf den hl. Georg und seine Rolle als Kirchenpatron näher eingegangen und es werden die Ursprünge der steirischen Georgskirchen vor allem hinsichtlich einer früh- bzw. hochmittelalterlichen Datierung beleuchtet. Durch Überlegungen zur Familie des adeligen Schenkers Rudegerus de Chrapphelt, zur historischen Entwicklung der Region Graslupp (= Neumarkter Hochtal) im Früh- und Hochmittelalter und zur Kirchengeschichte selbst verdichtet sich das Bild einer im Südostalpenraums bislang nur selten archäologisch-bauhistorisch fassbaren frühen Kirchengründung des zumindest 11. Jahrhunderts.
Anmerkungen
[1] Richard Knabl, Antiquarische Reise in das obere Murthal, unternommen in den Monaten Julius, August und September 1849. In: Mittheilungen des Historischen Vereines für Steiermark 1 (1850), 24–70 [in Folge: Knabl, Murthal], hier 28.
[2] Knabl, Murthal 28–32.
[3] lupa.at/6126
[4] Carl Haas, Notizen über die im Jahre 1858 neu untersuchten Baudenkmale. In: Mittheilungen des Historischen Vereines für Steiermark 9 (1859), 257–275, hier 259.
[5] Hans Gutscher, Neumarkt in Steiermark und seine Umgebung in archäologischer Sicht (Leoben 1909), 18f. (zu St. Georgen).
[6] Josef Petzl, Sichtbare Vergangenheit in Neumarkt und seinen Hochtälern. Festschrift zum zehnjährigen Bestehen des „Geschichts- und Museumsvereines Hochtal Neumarkt“ (Neumarkt 1983), 16f.
[7] Walter Brunner, Geschichte von St. Marein bei Neumarkt (St. Marein bei Neumarkt 1987), 188–190, 233–241.
Neuerscheinung:
Astrid Steinegger, St. Georgen bei Neumarkt. Die Befunde der Kirchengrabung im Kontext der steirischen Mittelalterarchäologie (= Forschungen zur geschichtlichen Landeskunde der Steiermark 88, Graz 2020), 324 Seiten ( Inhaltsverzeichnis)
Das Buch ist im Buchhandel oder bei der HLK (Karmeliterplatz 3, 8010 Graz, 0316/877-3013, hlk@stmk.gv.at) um € 36,– erhältlich.
Mag.a Dr.in Astrid Steinegger, geb. 1977 in Graz, promovierte 2017 an der Karl-Franzens-Universität Graz. Ab 2010 selbstständige Archäologin mit Schwerpunkt Mittelalterarchäologie. Seit 2012 Lehrtätigkeit an den Universitäten Graz und Klagenfurt. Bis Ende 2018 Vorstandsvorsitzende des Vereins FIALE (Forschungsgruppe zur interdisziplinären Aufarbeitung landeskulturellen Erbes) – im Zuge dessen Durchführung mehrjähriger kulturwissenschaftlicher Projekte in der Obersteiermark (u. a. Frauenburg). Seit 2019 Mitarbeiterin der Abteilung für Archäologie des Bundesdenkmalamtes mit Dienstort in Klagenfurt (Archäologie Kärnten).