Die „Libri Ordinarii“ der Salzburger Kirchenprovinz oder: Was ist das Besondere zu Ostern im mittelalterlichen Seckau?
Franz Karl Praßl
1. Das Forschungsprojekt
Ein im Bereich der Geisteswissenschaften groß angelegtes Forschungsprojekt mit nicht geringer Bedeutung für mittelalterliche musikalische, literarische, topographische und theologische Quellen der Steiermark konnte zwischen 2014 und 2019 unter der Leitung von PD Dr. Robert Klugseder und dem Autor dieses Beitrags durchgeführt und inzwischen erfolgreich abgeschlossen werden: Cantus Network – libri ordinarii of the Salzburg metropolitan province. Damit sind zahlreiche Libri Ordinarii der mittelalterlichen Salzburger Kirchenprovinz mit ihren Suffraganbistümern Passau, Regensburg, Freising (München) und Brixen gemeint, dazu auch allfällige Quellen der Salzburger Eigenbistümer wie Gurk, Seckau oder Lavant.
Die Ergebnisse sind online einsehbar und stehen für Studien aller Art zur Verfügung: https://gams.uni-graz.at/context:cantus/sdef:Context/get?locale=de
Ein Liber Ordinarius (in älterer Literatur, vor allem in Handschriftenkatalogen auch Directorium oder Breviarium genannt) ist ein Buch zur Ordnung der Liturgie. Im Liber Ordinarius wird beschrieben, was wann wo und wie zu feiern ist. Das Was, also die Gesänge, Lesungen und Gebetstexte, sind mit ihren Incipits angegeben, in älteren Büchern können diese Incipits auch mit adiastematischen (linienlosen) Neumen notiert sein. Neumen können darüber hinaus Angaben zu den mit einer Antiphon verbundenen Psalmtönen und deren Varianten machen bzw. Melodien eindeutig definieren, wie dies z. B. bei Ordinariumsgesängen wie Kyrie oder Sanktus notwendig ist, um z. B. zu wissen, welches Kyrie zu singen ist. Das Wann betrifft den konkreten Gottesdienst (Nachtgottesdienst, Morgengottesdienst, Messe, Abendgottesdienst usw.) und die Position der einzelnen Texte und Gesänge im Ablauf der Liturgie. Die Feierorte sind das Wo: Libri Ordinarii beschreiben nicht nur mehr oder weniger genau den Ablauf von Prozessionen, sondern u. a. auch, an welchen Tagen eine Messe an einem bestimmten Altar zu feiern ist. Das Wie sind die Beschreibungen der rituellen Abläufe (z. B. Körperhaltungen wie Stehen oder Sitzen) oder die Zuordnungen der Gesänge zu Personen oder Personengruppen (z. B. Kantor, Knaben, Schola, Gemeinde). Libri Ordinarii können auch theologische Kommentare zur Liturgie enthalten oder ganz profane Angaben wie z. B. im Seckauer Liber Ordinarius von 1345, wann eine Weinspende für besondere Gebetsleistungen (etwa aufgrund von Stiftungen) fällig ist. Die Kompetenz zur Ordnung der Liturgie lag im Mittelalter beim jeweiligen Ortsbischof bzw. bei den Äbten und Pröpsten der diversen Klöster oder Stifte. Daher war die Liturgie eines Domes oder eines Klosters immer auch von lokalen Besonderheiten geprägt, die kodifiziert werden mussten.
Insgesamt wurden 27 Libri Ordinarii online ediert, die aus Passau, Salzburg, Brixen, Regensburg, Freising, Moosburg (bei Freising), Klosterneuburg, Seckau und Vorau bzw. zu Vergleichszwecken aus Hirsau stammen. Diese erstmals[1] edierten Quellen sind für die jeweiligen (Erz-)Diözesen, zahlreiche Augustiner-Chorherren Stifte und auch für einige Benediktinerabteien bestimmt gewesen, deren konkrete Liturgie vor Ort damit definiert worden ist.
2. Die drei Seckauer Libri Ordinarii
Als Dokumentation der Liturgie über einen Zeitraum von 400 Jahren (etwa ab 1200 bis zur Einführung des römischen Ritus im Jahre 1600) im mittelalterlichen Chorherrenstift Seckau sind alle drei erhaltenen Libri Ordinarii veröffentlicht worden: Der Codex A-Gu 208, dessen ältester Teil noch aus dem 12. Jahrhundert stammt, ist das erste dieser Bücher. Die ursprünglich enthaltene Liturgie ist sehr stark passauisch geprägt, das Buch wurde später auf den Seckauer Usus hin umgearbeitet bzw. adaptiert. Dies ist insofern bemerkenswert, als Seckau zwar zum Salzburger Chorherrenverband gehört hat, in der Liturgie jedoch nicht immer dem Salzburger Usus gemäß dem dortigen Liber Ordinarius (um 1198) gefolgt ist. Es ist noch in vielen Details (so dies möglich ist) zu erforschen, wie die Salzburger Liturgie vor dem Liber Ordinarius des Rudigerus ausgesehen hat, und welche Gemeinsamkeiten es mit älteren Bräuchen in Passau hier gegeben hat. Anknüpfungspunkte dafür sind z. B. das Seckauer Graduale-Sakramentar-Sequentiar (Missale) A-Gu 444, vermutlich Bestandteil der Gründungsausstattung des Stiftes, die von Salzburg aus mitgegeben worden ist, sowie das Salzburger Missale (Nonnberg-Dom) D-Mbs clm 11004, das ebenfalls gemäß dem Liber Ordinarius von ca. 1198 umgearbeitet worden ist.
Am bekanntesten ist der Liber Ordinarius von 1345, die Handschrift A-Gu 756, vor allem auch durch das beigebundene Cantionar, welches zahlreiche unikale bzw. selten überlieferte Gesänge enthält, darunter auch ein sehr breites Repertoire an lateinischen „Weihnachtsliedern“ bzw. auch ähnliche Gesänge für die Osterzeit, die als „Lieder“ am Rande der offiziellen Liturgie cantiones genannt werden. Der Liber Ordinarius von 1345 ist zusammen mit dem Cantionar auch von der Notation her interessant, stellt das Buch doch eines der letzten Beispiele für eine adiastematische Neumen-Notation dar, welche seit dem 12. Jahrhundert auch in unseren Breiten durch die Liniennotation Schritt für Schritt abgelöst worden ist. Die Weiterverwendung dieser ursprünglichen, aber im 14. Jahrhundert schon sehr konservativen Notationspraxis ca. 300 Jahre nach der Einführung der Liniennotation ist nicht als Fortschrittsverweigerung oder provinzieller Traditionalismus zu betrachten. Offenbar war die Gesangspraxis auf Basis der mündlichen Überlieferung und des Auswendig-Lernens aller Gesänge noch so intakt, dass es einfach nicht notwendig war, die Vorteile der Liniennotation zu nutzen (und auch deren Nachteile gegenüber der Neumennotation in Kauf zu nehmen). Die individuelle und kollektive Gedächtnisleistung hat der Mühe des Notenschreibens noch nicht bedurft. Wir kennen auch von anderen Orten das Nebeneinander verschiedener Notationsformen. Während im 12. Jahrhundert die Augustiner-Chorherren in Klosterneuburg linienlose deutsche Neumen benutzt haben, bedienten sich die dortigen Chorfrauen der neuartigen, aus Augsburg kommenden Notation von Neumen auf vier Linien, heute Klosterneuburger Notation genannt. Das bekannteste Beispiel für diese Bücher liegt freilich heute in Graz. Es ist der Codex 807 der Bibliothek der KF-Universität (um 1160), ein Graduale, das bis heute zu den wichtigsten und frühesten Quellen der ostfränkischen Tradition zählt (häufig völlig unkorrekt „germanischer Choraldialekt“ genannt, wogegen sich Ungarn, Tschechen, Slowaken, Polen, Bewohner des Baltikums und Nordeuropäer, welche im Prinzip die gleiche Grundversion gesungen haben, zu Recht wehren). Dieses Graduale war übrigens in Seckauer Besitz und ist von dort nach der josephinischen Klosteraufhebung über Wien nach Graz gekommen.
Der dritte Seckauer Liber Ordinarius wurde um 1595 vom späteren Domdekan Georg Huebner geschrieben, knapp vor der – sicher nicht ganz freiwillig geschehenen – Einführung der römischen Liturgie im Jahre 1600. Diese unscheinbare Handschrift (A-Gu 1566) repräsentiert eines der letzten Beispiele des Buchtyps „Liber Ordinarius“. Mit der Vereinheitlichung bzw. Romanisierung der Liturgie sind solche Bücher letztlich überflüssig geworden, nicht zuletzt auch wegen des florierenden Buchdrucks, welcher die enormen Kosten für Liturgica deutlich gesenkt hat. Zur Orientierung über den Ablauf der Gottesdienste zu den diversen Zeiten des Jahres hat man in der Neuzeit ein so genanntes Direktorium gedruckt, das in knapper Form alle Vorschriften auflistet. Heute stehen solche Direktorien meist schon online und sind in Papierform gar nicht mehr erhältlich. Der Liber Ordinarius des Georg Huebner jedenfalls war die „letzte Blume des Mittelalters“, wie es Karl Amon einmal mir gegenüber ausgedrückt hat. Amon gehörte zu den wenigen, welche dieses Buch gekannt, studiert und einer jüngeren Generation zum Studium auch weiterempfohlen haben. Zu den Besonderheiten der Handschrift A-Gu 1566 zählt, dass Huebner andere Liturgica darin mit Blattzahlen zitiert, so z. B. das von ihm so genannte „Graduale magnum“, die Prachthandschrift A-Gu 17, geschrieben um 1500. Anhand der Nennungen diverser Bücher in A-Gu 1566 wie Antiphonare und Gradualien konnte Réka Míklos konkret nachweisen, was alles aus Seckauer Beständen an notierten Handschriften verkommen und verloren gegangen ist. Dennoch ist es möglich, einen roten Faden von 1345 (A-Gu 756) über 1500 (A-Gu 17) bis 1595 (A-Gu 1566) in der Entwicklung und Entfaltung der Seckauer Liturgie zu ziehen. Die gottesdienstlichen Neuerungen nach 1345 und im 15. Jahrhundert schlagen auf das Buch von 1345 insofern durch, als zahlreiche Rasuren und Überschreibungen im zweiten Seckauer Liber Ordinarius ebenfalls das Spät- bzw. Endstadium der Eigenliturgie in Seckau dokumentieren.
Die hier genannten liturgischen Ordnungsbücher sind weit mehr als historische Momentaufnahmen. Sie dokumentieren vielmehr Entwicklung und Veränderung durch die vielen Eingriffe in den Ursprungstext. Sie sind also in einem gewissen Sinne Zeugen eines Jahrhunderte andauernden „work in progress“.
Während außer den Arbeiten von Thomas Csanády und Réka Míklos zum ersten und dritten Buch neben meiner eigenen Dissertation über die Sequenzen österreichischer Augustiner-Chorherren kaum Studien existieren, wird der Ordinarius von 1345 (meist „Directorium“ genannt) gar nicht so selten in der Forschungsliteratur erwähnt. Dies geschieht freilich zumeist nach Art des „Rosinenpickens“. Das Cantionar wurde von Walther Lipphardt eingehend erschlossen. Themen wie die Weihnachtskomplet oder der Schluss der Trauermetten bzw. die Visitatio sepulchri („Osterspiel“) haben schon früher interessiert, aber eine eingehende Darstellung des Buches und seiner Inhalte erfolgte erstmals durch die Dissertation von Inga Behrendt.
3. Wichtige Sekundärquellen für das Studium der Seckauer-Salzburger Liturgie
Zusätzlich zum Editionstext stehen zum Studium der Libri Ordinarii auch zahlreiche Sekundärquellen zur Verfügung, welche das aufbereitete Regelwerk, das ja nur Incipits enthält, illustrieren bzw. textlich und musikalisch vollständig darstellen. Für den Bereich der Erzdiözese Salzburg wurden dazu gleich zehn Handschriften aus dem Chorherrenstift Vorau herangezogen. Dazu gehören das Graduale-Sakramentar A-VOR 21, welches in Seckau im 4. Viertel des 12. Jh.s geschrieben und dem jungen Stift in der Oststeiermark als Teil der liturgischen Grundausstattung mitgegeben worden ist. Nur unwesentlich jünger ist das Missale A-VOR 303, das wie A-VOR 21 ebenfalls deutsche Neumen enthält. Aus dem Jahr 1454 stammt das Graduale A-VOR 254, das in deutscher gotischer Notation („Hufnagelnotation“) geschrieben ist, ebenso wie das Graduale für die Erzdiözese Salzburg A-Wda Cod. 3 aus der 2. Hälfte des 15. Jh. Das vierbändige Antiphonar A-VOR 259 repräsentiert die Tagzeitenliturgie nach dem Salzburgisch-Vorauischen Ritus. Um 1368 für das Prager königliche Kollegiatstift St. Peter und Paul am Vyšehrad hergestellt, ist es – in böhmisch-gotischer Notation geschrieben – eines der wenigen Beispiele für diesen Notationstyp in unseren Breiten. Nach den Hussitenkriegen kamen die Bücher nach Wien, wurden vom Vorauer Stift angekauft und liturgisch-musikalisch auf die dortigen Verhältnisse bis 1496 umgearbeitet. Es wurden Blätter mit typischen Inhalten der fremden Prager Liturgie entfernt, Fehlendes für den Salzburger Usus wurde auf eingefügten Blättern ergänzt und die Handschriften wurden darauf neu eingebunden.
Ein Hymnar (A-VOR 263) und ein weiterer Liber Ordinarius (A-VOR 333), der gewissermaßen als „Doublette“ nicht eigens ediert worden ist, runden die Sammlung für den Bereich der Salzburger Liturgie ab. Das oststeirische Chorherrenstift Vorau hatte das Glück, dass wesentlich mehr liturgisch-musikalische Quellen vor Ort „überlebt“ haben als etwa in Seckau oder selbst in Salzburg. So ist heute die primäre Referenzsammlung für das Salzburger Domstift in Vorau zu finden, obwohl die liturgische Ordnung ursprünglich deutliche Passauer Züge getragen hat, dann aber an den Salzburger Ritus angenähert worden ist. Vorauer Quellen sind erst mit dem Cantus Network Projekt verstärkt von der Forschung „wahrgenommen“ worden.
Für Seckau steht das dortige „Graduale magnum“ (A-Gu 17) als Vergleich zur Verfügung, heute befindet sich die Handschrift im Besitz der UB der KF-Uni Graz. Dieses „Gesangbuch“ für die Konventmesse des Stiftes ist gewissermaßen auf Vollständigkeit hin angelegt worden, es enthält zahlreiche Ergänzungen der ersten Hand vor allem für Seckauer Eigengesänge wie Alleluia oder Sequenzen. Leider ist uns aus Seckau kein einziges Antiphonar erhalten, sodass wir Gesangsquellen für das Offizium aus anderen Orten zum Vergleich heranziehen müssen.
4. Besonderheiten der Karwoche und der Osterfeier in Seckau
Zunächst hat die große Prozession am Palmsonntag eine besondere musikalische und rituelle Entfaltung. Es werden in einer Art von Dramatisierung Szenen aus den letzten Tagen des Lebens Jesu „nachgespielt“. Nach der Segnung des Weihwassers und der Besprengung der Gemeinde wird nach Gesang und Gebet eine Lesung vorgetragen, die an das Erschlagen der Erstgeborenen in Ägypten vor dem Exodus Israels erzählt – dies ist der alttestamentliche Typus für die Ereignisse der Hohen und Heiligen Woche. Der Gesang vom Zusammenrotten der Hohenpriester gegen Jesus wird mit verteilten Rollen gesungen. Es folgen die Segnung und Verteilung der Palmzweige. Der Prozession gehen Fahnenträger voran. Bei einer Statio wird ein verhülltes Kreuz enthüllt und dem Volk feierlich gezeigt. Dann setzt sich die Prozession fort, und zwei Sängerknaben schwingen Palmzweige und singen dabei: Die Kinder der Hebräer tragen Zweige in den Händen und rufen „Hosanna“. Zu den Worten Ich werde den Hirten schlagen und die Schafe werden sich zerstreuen wird der Zelebrant mit einem Palmzweig leicht geschlagen. Dann zieht man mit dem Hymnus Gloria laus et honor in Richtung Kircheneingang. Das Volk antwortet auf den Hymnus mit dem Gesang Israhelischeuo menigeuo deuo fuor christ engegene mit lob und mit gesange gegen dem hailande Willechomen seistu herre chaiser alles israhelis. Und alternierend mit dem Gesang der Knaben, der Schola und des Volkes zieht man in die Kirche ein, wo die Messe beginnt. Diese Prozessionsbeschreibung ist einer der zahlreichen Belege für die Beteiligung der Gemeinde an der Liturgie mit muttersprachlichen Gesängen.
Mit besonderer Festlichkeit ist auch der Abschluss der drei Trauermetten (Gründonnerstag, Karfreitag, Karsamstag) gestaltet. Es ist dies nach dem Gesang des Benedictus der Laudes ein litaneiartiger Wechselgesang zwischen Chorherren und Gemeinde, bei dem wiederum volkssprachiger Gesang erklingt.
Die Gemeinde singt zunächst im Wechsel mit den Chorherren das immer wiederkehrende Kyrie eleison, in das litaneiartige Anrufungen eingeschoben sind. Dann stimmt der Propst den Hymnus Rex Christe factor omnium an. Dieser wird dann wechselweise lateinisch - mittelhochdeutsch (Chuonich schepfeer alles dester ist) zwischen Chor und Gemeinde gesungen. Nach dem Vater unser, dem Psalm 51 (Miserere mei Deus) und einem abschließenden Versikel werden wieder die Lichter angezündet. Das Volk singt weiter Kyrie eleison und der Klerus verlässt die Kirche.
Eine Variante dieses die Trauermetten beschließenden Ritus findet man auch im St. Lambrechter Antiphonar des 14. Jahrhunderts (A-Gu 29). Hier sind auch noch die Sängerknaben mit verschiedenen Anrufungen und der Leise („Kyrie Eleison“-Gesang) Laus tibi Christe qui pateris eingebunden. ( Tonbeispiel: Maria - zur Passion: Hymnus „Rex Christe, factor omnium - Christ schepfer alles des da ist“)
Eine Besonderheit der Länder nördlich der Alpen ist auch die mehr oder minder entfaltete Visitatio sepulchri, der Besuch des leeren Grabes am Morgen des Ostersonntags. Dieser Ritus steht zwischen dem Ende der Matutin und dem Beginn der Laudes. Auch hier werden die Erscheinung des Auferstandenen bei den drei Frauen und der Lauf zum Grabe durch Petrus und Johannes dramatisiert dargestellt. Am Ende steht die Verkündigung der Auferstehung und das Bekenntnis der Gemeinde mit dem Lied „Christ ist erstanden“. Dieser älteste Gemeindegesang ist erstmals im 12. Jahrhundert in Passau überliefert.
Die Visitatio sepulchri hat sich im Laufe der Zeit aus der Liturgie herausgelöst und hat sich zusammen mit Darstellungen der Passion zu Volksschauspielen weiterentwickelt. Ein besonderes Beispiel dafür ist das Admonter Passionsspiel. Ein Ausschnitt zeigt den Teil der Visitatio sepulchri. ( Video: Admonter Passionsspiel - Visitatio Sepulchri)
Die Chorherren waren besondere Marienverehrer. Sie haben mit der Praxis der Frühmesse, die zusätzlich zum täglichen Konventamt gefeiert worden ist, quasi ein paralleles marianisches Kirchenjahr geschaffen. Dies zeigt sich besonders in den Hymnen und Sequenzen. Die marianische Ostersequenz Virgini Mariae laudes ist eine leicht erkennbare Paraphrase der Ostersequenz Victimae paschali laudes, letztere wird noch heute am Ostersonntag gesungen. Das Tonbeispiel präsentiert die Version, welche in Seckau überliefert ist. ( Tonbeispiel: Maria - zu Ostern: Sequenz „Virginis Mariae laudes“)
Literaturverzeichnis
- Inga Behrendt, Der Seckauer Liber ordinarius von 1345 (A-Gu 756) – Edition und Kommentar (Diss. Kunstuniversität Graz 2009).
- Thomas Csanády, Eine bislang unentdeckt gebliebene Handschrift des 12. Jahrhunderts aus St. Nikola vor Passau(?): der Liber Ordinarius Ms 208 der Universitätsbibliothek Graz. In: Archiv für Liturgiewissenschaft 51 (2009), 109–118.
- Stefan Engels, Das Admonter Passionsspiel Cod. A-A 812. In: Thomas Betzwieser/Markus Schneider (Hgg.), Aufführung und Edition (= Beihefte zu editio 46, Berlin–Boston 2019), 55–64.
- Réka Míklos, Der Liber Ordinarius A-Gu 1566. Edition und Kommentar (Diss. Kunstuniversität Graz 2016).
- Walther Lipphardt, Lateinische Osterfeiern und Osterspiele, 6 Bände (Berlin 1976–1990).
- Michel Norton/Amelia Carr, Liturgical Manuscripts, Liturgical Practice, and the Women of Klosterneuburg. In: Traditio 66 (2011), 67–169.
- Franz Karl Praßl, Psallat ecclesia mater. Studien zu Repertoire und Verwendung von Sequenzen in der Liturgie österreichischer Augustinerchorherren vom 12. bis zum 16. Jahrhundert, 2 Bde. (Diss. Graz 1987).
- Franz Karl Praßl, Gesang an der Peripherie – Die Choralhandschriften in der Bibliothek des Augustiner-Chorherrenstiftes Vorau. In: Robert Klugseder (Hg.), Cantus Planus. Study Group of the International Musicological Society. Papers read at the 16th meeting, Vienna, Austria, 2011 (Wien 2012), 332–343.
- Franz Karl Praßl, Der pawlowsche Hund und die Liturgie. Hören und Wiedererkennen im Gregorianischen Choral. In: Klaus Aringer u. a. (Hgg.), Geschichte und Gegenwart des musikalischen Hörens. Diskurse – Geschichte(n) – Poetiken (= Rombach Wissenschaften. Reihe klang-reden 17, Freiburg im Breisgau 2017), 155–174.
- Franz Karl Praßl, Das Seckauer „Graduale Magnum“ UBG MS. 17. In: Thomas Csanády/Erich Renhart (Hgg.), Libri Seccovienses. Studien zur Bibliothek des Augustiner Chorherrenstiftes Seckau (Graz 2018), 109–136.
Anmerkungen
[1] Mit Ausnahme des 2. (1345) und des 3. (um 1595) Seckauer Liber Ordinarius, welche bereits im Rahmen von Dissertationsprojekten an der Kunstuniversität Graz durch Inga Behrendt und Réka Míklos vorgelegt worden sind.
Glossar
Antiphon = Gegengesang, Wechselgesang
Antiphonar = Sammlung von Antiphonen
Benedictus = Teil der Laudes (Morgengebet)
Cantionar = mittelalterliche Sammlungen lateinischer und volkssprachlicher, vorwiegend geistlicher Gesänge
Graduale = auch Choralbuch; enthält liturgische Gesänge des Kirchenjahres
Hymnar = Sammlung von Hymnen
Hymnus = Preis- und Lobgesang
Incipit = Beginn eines Notentextes
Laudes = Morgengebet
Leise = mittelalterliches deutschsprachiges Kirchenlied
Liber Ordinarius = Buch zur Ordnung der Liturgie
Liturgica = liturgische Bücher
Matutin = Nachtgebet
Missale = Messbuch
Neume = Zeichen, Figuren und Symbole zur Notation des Gregorianischen Gesangs
Offizium = Stundengebet
Sakramentar = Sammlung von Gebeten
Schola = Chor für gregorianischen Gesang
Sequentiar = Sammlung von Sequenzen
Sequenz = Wiederholung eines musikalischen Motivs auf höherer oder tieferer Tonstufe
Versikel = kurzer Wechselgesang
O. Univ.-Prof. Mag. Dr. Franz Karl Praßl, geb. 1954 in Feldbach, studierte Katholische Theologie (Promotion 1987), katholische Kirchenmusik (Orgel bei Ernst Triebel), Chorleitung und Dirigieren in Graz.1982 bis 1992 war er Domorganist in Klagenfurt, 1982 bis 1989 auch Kirchenmusikreferent der Diözese Gurk. Seit 1989 ist er Professor für Gregorianik an der Kunstuniversität Graz, seit 2017 Mitglied der HLK. 1999 bis 2011 war er Präsident der Internationalen Arbeitsgemeinschaft für Hymnologie.