Ein neuer Blick auf die Römerstadt Flavia Solva
Stefan Groh, Bernhard Hebert
Die Forschungsgeschichte
Dass die Historische Landeskommission für Steiermark (HLK) die größte Fundstelle der Römerzeit im Land immer schon im Blick hatte, wird nicht verwundern: Ihr „großer“ Ausgräber, Walter Schmid (1875–1951), war ebenso Mitglied wie Erna Diez (1913–2001), der wir die grundlegende Erschließung der Römersteine der Stadt u. a. auf Schloss Seggau[1] verdanken. Die HLK-Mitglieder Walter Modrijan (1911–1981) und danach Erich Hudeczek (1939–2007) prägten über Jahrzehnte die archäologische Erforschung der Römerstadt. Deren Neustart nach dem Zweiten Weltkrieg ist dem Korrespondenten der HLK Eduard Staudinger (1966–2001) zu verdanken, dem Korrespondenten (ab 1984) Gert Cristian die Übernahme vielfältiger Agenden bis heute, nicht zuletzt als Präsident des Archäologischen Vereines Flavia Solva.
Flavia Solva war und ist für die Ausbildung des akademischen Nachwuchses, als Ort für Lehrgrabungen und als „Materialgrundlage“ für akademische Abschlussarbeiten genauso wichtig wie für die überregionale Forschung, die auf eine neue umfassende Darstellung zu Flavia Solva[2] ebenso wartet wie auf eine weitere Erschließung des umfangreichen, großteils im Universalmuseum Joanneum verwahrten Fundmaterials. Zu Letzterem startet heuer (2021) ein dreijähriges, aus dem Joanneumsfonds und aus Bundesmitteln für den Denkmalschutz finanziertes Aufarbeitungsprojekt unter fachlicher Leitung von Barbara Porod (Universalmuseum Joanneum).
Zu Ersterem erschien kürzlich ein von der HLK herausgegebener gewichtiger Band von Stefan Groh (Österreichisches Archäologisches Institut der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, ÖAI/ÖAW), der in Vielem einen neuen Blick auf die Römerstadt ermöglicht.[3] (Abb. 1) Unter anderem geht es darin um die Stadtentwicklung zusammen mit dem Frauenberg bei Leibnitz, um den Stadtplan (Abb. 2), seine Interpretation und die Frage, wo die Stadt eigentlich aufhört: Viele antike Städte tun dies mit einer Stadtmauer, viele sollten bei ihrer Gründung klar „abgesteckt“ worden sein, mit einem Graben, wie wir das aus der Sage von Romulus und Remus kennen.
Um letzterem Detail anhand – seitens der heutigen Forschung links liegen gelassener – alter Nachrichten und anhand moderner geophysikalischer Messergebnisse nachzugehen, initiierte Stefan Groh eine von Gerald Fuchs geleitete archäologische Grabung, die im März 2021 unter Einsatz von Bundesmitteln für den Denkmalschutz stattfand. Beide Forscher haben sich schon in ihren Dissertationen mit der Stadt[4] und ihren Gräberfeldern[5] beschäftigt. Gerald Fuchs (Korrespondent der HLK 1988–2008) hat u. a. unlängst eine Studie zu einem der Gräberfelder im Rahmen der HLK herausgebracht.[6]
An einem windigen kalten Märztag haben die beiden Herren das unten geschilderte Ergebnis besichtigt, gemeinsam mit Ulla Steinklauber, die u. a. bei der HLK zum schon genannten Frauenberg publiziert hat,[7] und dem Unterzeichneten, der seine erste ernsthafte Grabung unter Anleitung von Erich Hudeczek und Gerald Fuchs in Flavia Solva absolviert und dann am Bundesdenkmalamt für die Unterschutzstellung von Stadt und Gräberfeldern gesorgt hat. Unerwartet mit dabei war nicht nur der ORF, sondern auch die Weinbau-Fachschule Silberberg, die nicht im Home-Schooling verblieben, sondern in Sachen Geschichte unterwegs war. Und übrigens auch das Grundstück im Eigentum des Landes Steiermark verwaltet, auf dem die Grabung stattfand.
(Bernhard Hebert)
Der „Stadtgraben“
Auf diesem Grundstück zeigten sich bereits 2007, als in Flavia Solva großflächige geophysikalische Messungen des ÖAI vorgenommen worden sind, die Spuren eines etwa 6 m breiten Grabens, der das nördliche Stadtgebiet linear zu begrenzen schien. Seine Fortsetzung nach Westen wiederum konnte anhand von Luftbildauswertungen erkannt werden. Waren anfangs die Dimension und Funktion dieses breiten Grabens noch unklar, so erlaubte erst das Studium der Archivalien und primären Quellen zur Forschungsgeschichte von Solva eine schlüssige Hypothese. Richard Knabl, ein katholischer Priester und Epigraphiker, eine der wichtigsten steirischen Forscherpersönlichkeiten des Altertums und Zeitgenosse Erzherzog Johanns, identifizierte nicht nur Flavia Solva mit der Stadt im Leibnitzer Feld bei Wagna, sondern kartierte sogar eine 2700 m lange Landmauer, die diese Stadt im Norden limitierte. Diese Landmauer („Spuren einer alten Mauer“) verlief schnurgerade zwischen den Flüssen Mur und Sulm, wobei ihr eigentlicher Entdecker, k. k. Artillerie-Hauptmann Thomas Kollarz, sie als etwa 1,8 m tief fundamentiert, „sehr breit“ und als „Basis der Stadtmauer“ beschreibt (Abb. 3).[8]
Waren somit nicht nur die Stadt Solva, sondern auch ihr gesamtes Stadtgebiet und die Nekropolen bis zum Frauenberg im Norden wirklich durch eine Mauer geschützt? Falls ja, wann errichtete man diese Limitation/Befestigung und was bedeutet dies für die strategische Stellung der Stadt in Noricum und in Bezug auf Italien?
In einem ersten Schritt wurde der alte Plan von Richard Knabl anhand der Flüsse, wie sie in der kontemporären Franziszeischen Landesaufnahme (1820–1841) kartiert waren, in einem Geoinformationssytem referenziert. Das Ergebnis erwies sich als ein eindrucksvolles: Der Verlauf der „Spuren einer alten Mauer“ deckte sich sowohl mit den Strukturen der geophysikalischen Messungen als auch den Luftbildauswertungen (vgl. Abb. 3). 2021, also 173 Jahre nach der ersten Erwähnung, wurde diese Struktur (wieder) untersucht. Mittels dreier Schnitte sollten Aufschlüsse über ihre Morphologie und Datierung gewonnen werden.
Was wissen wir nun nach dieser Grabung? Um es vorwegzunehmen, man fand in den drei Schnitten keine Fundamente einer Stadtmauer, aber einen an der Oberkante 6 m breiten Graben, der in allen Profilschnitten dieselbe Breite und Schichtabfolge aufweist. Die plane Grabensohle ist etwa 1,8 m breit, in den Flussschotter eingetieft, die Grabenwände sind trogförmig, im Norden getreppt und es gibt eine zweiphasige Verfüllung, deren obere (jüngste) glücklicherweise recht fundreich war. Die Existenz eines „Stadtgrabens“ ist somit bewiesen! Er könnte auch als Fundamentgraben einer Mauer fungiert haben, die Grabentiefe entspricht den Angaben des Thomas Kollarz, die Breite der Grabensohle könnte als Basis einer Stadtmauer gesehen werden (Abb. 4).
Bleibt die Frage der Datierung: haben wir hier überhaupt eine antike Konstruktion erforscht? – Ja, in den Verfüllungen des Grabens wurde kein einziges neuzeitliches Fundstück entdeckt! Das Fundspektrum reicht von den mittleren Jahrzehnten des 3. Jahrhunderts bis in das fortgeschrittene 4. Jahrhundert n. Chr., genauer gesagt, bis in valentinianische Zeit.[9]
Die historische Analyse des Befundeten und der übrigen Evidenzen zur Stadtgeschichte erlaubt es wohl, die Bedeutung der ansonsten mediokren, im Südosten der Provinz Noricum gelegenen Stadt Flavia Solva neu zu interpretieren. Die Anlage der Fortifikation kann zwar derzeit noch nicht näher datiert werden, doch scheint es ein territoriales Sicherungskonzept gegeben zu haben, das nicht nur das nähere Stadtgebiet, sondern weite Teile des Leibnitzer Feldes umfasst haben dürfte. Die Grabenprofile von Solva finden nämlich ihre Pendants im 3700 m langen „Teufelsgraben“, der zwischen Obergralla und Tillmitsch das Leibnitzer Feld limitiert; die Ähnlichkeiten sind so frappant, dass eine kontemporäre Konstruktion beider Fortifikationen in Erwägung zu ziehen ist.[10] Als Zeitpunkt der Anlage beider Gräben bietet sich die tetrarchisch/konstantinische Epoche an, als im Zuge der Reformen nicht nur die Provinz Noricum neu geordnet, sondern auch ein territoriales Schutzkonzept für Italien entworfen und umgesetzt worden ist. Die beiden Gräben in Solva dürften als Teil der Claustra Alpium Iuliarum gesehen werden, und – ähnlich wie die Landmauer in Rattendorf (Gailtal, Kärnten) – in deren Vorfeld eingerichtet worden sein.
Nach einem offensichtlich durch germanische Invasoren bedingten Hiatus in der Stadtgeschichte in den 50er-Jahren des 3. Jahrhunderts, ist spätestens in tetrarchisch/konstantinischer Zeit für Flavia Solva eine städtbauliche Dynamik nachzuweisen, die sich verglichen mit den benachbarten Städten Virunum, Celeia und Poetovio, auch in der hohen Zahl und Qualität von Steindenkmälern[11] und einer Ehreninschrift für Constantinus I (306–337 n. Chr.) niederschlägt (Abb. 5). Der praeses der neuen Provinz Noricum mediterraneum, Fabius Claudius, war auf Inspektionsreise in Solva.[12] Anhand eines konstantinischen (324/325 n. Chr.) – nächst dem Stadtgraben und einem als Station/Posten interpretierten Gebäudes vorgefundenen – Münzschatzes, Teil einer offiziellen Kasse, kann dazu noch auf die Präsenz von administrativen und/oder militärischen Einheiten im Stadtgebiet geschlossen werden.[13] Es ist zwar mit einer regressiven, aber dennoch flächigen Besiedlung des gesamten Stadtgebietes zu rechnen. Die strategische Bedeutung der Stadt rückt sie für eine gewisse Zeitspanne in das Blickfeld überregionaler Interessen.
Anhand des Fundmaterials aus dem Graben, der Befunde im Stadtgebiet und auch der von Ursula Schachinger (Karl-Franzens-Universität Graz, Korrespondentin der HLK 2002–2011, Mitglied seit 2011) vorgenommenen Analyse des gesamten Fundmünzenbestandes von Flavia Solva[14] kann nun die Aufgabe der Siedlung an der Mur recht exakt in valentinianische Zeit datiert werden. Dies ist genau der Zeitraum, ab dem in den Gräberfeldern im Leibnitzer Feld nicht mehr, auf den Perl-/Stadläckern am Frauenberg jedoch erstmals bestattet wird, die Siedlung am Frauenberg, Flavia Solva an der Sulm, somit einen neuen Schwerpunkt erkennen lässt.[15] Hypothetisch könnte davon ausgegangen werden, dass die Befestigungsmauer von Flavia Solva eine Demontage erfuhr und als Baumaterial für den sog. Spolienwall, die neue „Stadtmauer“ der Höhensiedlung, und den burgus am Seggauberg Verwendung fand. Fortifikatorische Anlagen römischer Städten waren res sanctae, bauliche Veränderungen bedurften einer Bewilligung des Kaisers bzw. des praeses. Sollte der Stadt Solva das Recht auf einen Mauerbau eingeräumt worden sein, so dürfte mit der Transferierung der Stadt Solva an der Mur auf den Frauenberg auch eine Übertragung dieses Anspruchs erfolgt und die Aufgabe der Wehranlage in der Ebene bedingt gewesen sein.
Die Wiederentdeckung der Stadtmauer bzw. des Stadtgrabens von Solva zeigt nicht nur die große Bedeutung der Neubewertung aller Archivalien und der Kombination von natur- und geisteswissenschaftlichen Methoden der Archäologie, sondern zeugt auch von jenem „langen Atem“, den Grundlagenforschung insgesamt braucht. Es ist den Verfassern eine große Freude, einige Mosaiksteine für künftige Generationen dem Gesamtbild hinzugefügt haben zu dürfen.
(Stefan Groh)
Anmerkungen
[1] Das neue Standardwerk der „Schülergeneration“ ist leider schon länger vergriffen: Erwin Pochmarski/Manfred Hainzmann, Steine erzählen. Römische Steindenkmäler auf Schloss Seggau bei Leibnitz (Graz 2004). Ein richtungsweisendes Werk der „Enkelschülergeneration“ zu Schloss Seggau wurde von der HLK herausgegeben: Stephan Karl/Gabriele Wrolli, Der Alte Turm im Schloss Seggau zu Leibnitz. Historische Untersuchungen zum ältesten Bauteil der Burgenanlage Leibnitz in der Steiermark (= Forschungen zur geschichtlichen Landeskunde der Steiermark 55, Wien–Berlin 2011).
[2] Letzte kurze Zusammenfassung in der von der HLK herausgegebenen Landesgeschichte der Steiermark: Barbara Porod, Eine ausgewählte Fundstelle: Die Stadt Flavia Solva. In: Bernhard Hebert (Hg.), Urgeschichte und Römerzeit in der Steiermark I (= Geschichte der Steiermark 1, Wien–Köln–Weimar ²2018), 730–734.
[3] Stefan Groh, Ager Solvensis (Noricum). oppidum – municipium – sepulcra – territorium – opes naturales (= Forschungen zur geschichtlichen Landeskunde 92, Graz 2021).
[4] Stefan Groh, Die Insula XLI von Flavia Solva, Ergebnisse der Grabungen 1959 und 1989 bis 1992 (= Sonderschriften des Österreichischen Archäologischen Instituts 28, Wien 1996).
[5] Gerald Fuchs, Die römerzeitlichen Gräberfelder von Flavia Solva. Grabungen, Raubgrabungen und Notbergungen 1506–1980 (Diss. Graz 1980).
[6] Gerald Fuchs (Red.), Flavia Solva. Hügelgräberfeld Altenmarkt. Topographie, Forschungsgeschichte und neue Grabungen (= Forschungen zur geschichtlichen Landeskunde der Steiermark 77, Laaken–Graz 2016).
[7] Ulla Steinklauber, Fundmaterial spätantiker Höhensiedlungen in Steiermark und Kärnten. Frauenberg im Vergleich mit Hoischhügel und Duel (= Forschungen zur geschichtlichen Landeskunde der Steiermark 61, Graz 2013).
[8] Richard Knabl, Wo stand das „Flavium Solvense“ des C. Plinius? Eine historisch-kritische Untersuchung als Beitrag zur Berichtigung der alten Erdkunde (= Schriften des historischen Vereines für Innerösterreich 1, Gratz 1848), 2.
[9] Bearbeitung des Fundmaterials: Helga Sedlmayer (ÖAW/ÖAI).
[10] Christoph Gutjahr (mit einem geologischen Beitrag von Hartmut Hiden), Der „Teufelsgraben“ im Leibnitzer Feld. Archäologisch-historische Forschungen zu einem außergewöhnlichen Bodendenkmal im Bezirk Leibnitz, Steiermark. In: Römisches Österreich 36 (2013), 193–294.
[11] Z. B. Erwin Pochmarski, Ein frühtetrarchisches Porträt aus Flavia Solva. In: Elisabeth Krenn/Ursula Schachinger (Hgg.), Neue Forschungen aus Flavia Solva (= Archäologische Gesellschaft Steiermark, Beiheft 3, Graz 2003), 115–137.
[12] Friederike Harl/Ortolf Harl, Ubi erat lupa, Bilddatenbank zu antiken Steindenkmäler (http://lupa.at/), 6109.
[13] Günther Dembski, Ein römischer Münzschatzfund aus Flavia Solva (Klein-Wagna, Gem. Wagna, BH Leibnitz, Steiermark). 636 Folles aus den Jahren 317–324. In: Numismatische Zeitschrift 90 (1975), 3–64.
[14] Ursula Schachinger, Der antike Münzumlauf in der Steiermark (= Veröffentlichungen der Numismatischen Kommission 43, = Forschungen zur geschichtlichen Landeskunde der Steiermark 49, Wien 2006).
[15] Ulla Steinklauber, Das spätantike Gräberfeld auf dem Frauenberg bei Leibnitz, Steiermark (= Fundberichte aus Österreich, Materialheft A 10, Wien 2002).
Neuerscheinung:
Stefan Groh, Ager Solvensis (Noricum). oppidum – municipium – sepulcra – territorium – opes naturales (= Forschungen zur geschichtlichen Landeskunde 92, Graz 2021), 354 Seiten ( Inhaltsverzeichnis)
Das Buch ist im Buchhandel und bei der HLK (Karmeliterplatz 3, 8010 Graz, 0316/877-3013, hlk@stmk.gv.at) um € 30,– erhältlich.
HR Univ.-Doz. Mag. Dr. Stefan Groh, Studium der Klassischen Archäologie, Alter Geschichte und Philosophie in Graz, Promotion zum Doktor der Philosophie 1994. 2002 Habilitation für das Fach Klassische Archäologie in Wien, ab 2000 Lehrtätigkeit an der Universität Wien. Von 1989 bis 1995 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Universalmuseum Joanneum in Graz und seit 1996 am Österreichischen Archäologischen Institut (ÖAI) an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien. 2009–2020 stellvertretender Direktor des ÖAI. Seit 2021 Einzelforscher mit Projektschwerpunkten zur Urbanistik römischer Städte in Österreich, Italien und Frankreich.
HR Univ.-Doz. Dr. Bernhard Hebert, Studium der Klassischen Archäologie und Klassischen Philologie in Graz und Wien. Promotion zum Doktor der Philosophie 1984 sub auspiciis praesidentis. 1992 Habilitation für das Fach Klassische Archäologie in Graz. Von 1986 bis 2011 Archäologe im Landeskonservatorat für Steiermark, seit 2011 Leiter der Abteilung für Archäologie des Bundesdenkmalamts. Seit 1985 Lehrtätigkeit an den Universitäten Graz, Innsbruck und Wien. Ab 1988 Korrespondent, seit 1999 Mitglied der Historischen Landeskommission für Steiermark (HLK), von 2007 bis 2019 Mitglied im Ständigen Ausschuss der HLK.