Unbeirrbare Geschichtsforschung: Leitgedanken zum Vorlesungs-Sammelband „Fälschung! Eine fächerübergreifende Spurensuche in der steirisch-innerösterreichischen Landesgeschichte“
Wernfried Hofmeister
Von der Lehre bis zum Buch
Nichts konnte die Ringvorlesung, die dem eingangs genannten Sammelband[1] vorausgegangen war, nach ihrem Start am 4. März 2020 aufhalten,[2] nicht einmal der unmittelbar danach erfolgte 1. Corona-Lockdown. Denn anstatt diese frei anrechenbare, also nicht verpflichtende Vorlesung unter dem Eindruck des allgemeinen gesellschaftlichen und institutionellen Schockzustands aufs nächste Semester oder gar Studienjahr zu verschieben, nutzten die sechs Vortragenden schon nach wenigen Tagen die Möglichkeiten der online-Lehre – bis hin zur Abschluss- und Fragestunde aller Lehrenden für ihre zahlreichen Hörer*innen per Videokonferenz am Ende des Semesters. Gegenüber den Studierenden konnte damit nicht nur ein Zeichen der Solidarität und des Durchhaltens gesetzt werden, sondern es ließ sich die Chance nützen, das durch die prekären Zeitumstände besonders brisant gewordene Thema der „Fälschung“ noch stärker ins Bewusstsein zu rücken – wertvoll wohl auch für ganz persönliche Erfahrungen mit rezenten Wahrheitsbeugungen, Täuschungen oder Verblendungen, insbesondere im Kontext einer pandemisch krisengeschüttelten, physisch und mental leidenden Zeit.
Dieses gemeinsame Durchhalten machte es zugleich möglich, bereits Ende 2021 – pünktlich zwei Jahre nach dem ersten Band der Reihe „Memoranda Styriaca“[3] – den für diese Kooperationslehre zwischen der HLK und der Uni Graz vorgesehenen, auf den Vorlesungsinhalten gründenden Sammelband erscheinen zu lassen; was er bietet, sei nun vom Verfasser dieses Blogbeitrags in der thematisch geordneten Reihenfolge aller sechs Beiträge referiert.[4]
Inhaltsskizzen zum Sammelband
Mit einem detailreichen, methodisch aufschlussreichen Blick in die Mittelaltergeschichte verdeutlicht der eröffnende Beitrag von Reinhard Härtel elementare Prozesse des historischen Urkundenwesens bei dessen Umgang mit der Echtheitsfrage. An die Seite resp. Stelle des modernen, rigiden Fälschungsbegriffs tritt die Einsicht in eine vormals grundsätzlich korrekturfreudige Epoche, in der die inhaltliche Überzeugungskraft eines Schriftstücks oft mehr zählte als die Form und der moralische Zweck umso leichter vor die sachliche Richtigkeit treten konnte, da die Grenzen zwischen Kanzleiwesen, Geschichtsschreibung und literarischen Fiktionen fließend waren. Den gleichsam großen Atem der Fälschungsgeschichte illustrieren Bezugnahmen auf die „Konstantinische Schenkung“ und das „Privilegium maius“, in den steirischen Raum führen die Fallbeispiele der „Georgenberger Handfeste“ sowie der Grazer Gründungsurkunde. Diese, aber auch andere Beispiele verdeutlichen die Notwendigkeit einer umfassenden, unvoreingenommenen Urkundenkritik und zeigen, inwiefern Fälschungen manchmal ein sogar besonders hoher historiographischer Wert zukommt.
Ebenfalls für eine sehr genaue und offenere Bewertung von Fälschungen schriftlicher, aber auch anderer historischer Zeugnisse plädiert Elke Hammer-Luza, wobei sie sich auf die Zeit der Aufklärung konzentriert und darin auf die Schicksale von Fälscher*innen speziell aus der Unterschicht. Was dadurch auf Basis zahlreicher Dokumente des Steiermärkischen Landesarchivs greifbar wird, ist eine Art Kampf ums tägliche Überleben von Menschen, denn die nachgewiesenen Fälle von betrügerischer Titelanmaßung, Falschgeldherstellung, Dokumentenfälschung oder Vortäuschung aussichtsreicher Schatzgrabungen waren meist rein aus materieller Not geboren, freilich stets gepaart mit persönlicher Findig‑ und Waghalsigkeit. Besonders lehrreich mutet es in mancher Hinsicht an, dass auf Seiten der Opfer solcher Täuschungsversuche oft eine fast komplizenhafte, weil den Betrug zwar mutmaßende, jedoch in Kauf nehmende Haltung gegeben war: Die Aussicht auf Gewinn machte offenbar seit jeher gierig und blind. – Für die eigene Wissenschaftszunft aber erwächst aus diesen Fallstudien die wohl berechtigte Warnung vor dem Irrglauben, im geschichtlichen Rückblick die uneingeschränkt gültige ‚Wahrheit‘ finden zu können.
Mit einer gewissermaßen künstlerisch freien Auslegung von ‚Fälschung‘ widmet sich Margit Stadlober dem kunstgeschichtlichen Phänomen der Wirklichkeitsvortäuschung: Gezeigt wird der Siegeszug einer täuschend echten Scheinwelt, den bereits die spätmittelalterliche Malerei mittels illusionsstarker, naturgetreuer bzw. ‑nachahmender Malerei förderte (etwa in den erst jüngst wiederentdeckten Naturszenerien der Grazer Burg), jedoch stets begleitet von einem Künstler‑ und Gelehrtenstreit um die Berechtigung solcher ‚Wirklichkeitsfälschungen‘. Als ein Randphänomen dieser mimetischen Technik werden optische Materialimitationen genannt – allen voran die bloß vorgetäuschte Marmoroberfläche und Scheinarchitekturen – und ebenfalls mit Beispielen aus dem steirischen Kulturraum belegt. Anders gelagert und dennoch ins allgemeine ‚Fälschungsbild‘ passend zeigt sich beim „Eggenberger Altar“ mit seiner artifiziellen Scheinwelt voll trügerischer Rombezüge das einstige Bemühen um herrschaftspolitische Selbstlegitimierung.
Was in der soeben genannten kunsthistorischen Abhandlung bewusst ausgespart geblieben war, greift Astrid Steinegger in ihrer fächerübergreifenden Abhandlung zu „Gratwanderungen zwischen Nachahmung, Kopie und Fälschung im archäologischen Kontext“ mit auf, nämlich die täuschend echten Repliken von Kunstgegenständen. Doch abermals sind es nicht so sehr die zahlreich genannten Beispiele an sich, welche den Themenhorizont weiten, sondern die höchst aufschlussreichen institutionellen und öffentlichen Debatten darüber: Denn zwar ist längst bekannt, dass Museen oft nur Reproduktionen archäologischer Funde präsentieren, um die Originale zu schützen. Weniger bekannt mag dagegen die einstige Fachmeinung bezüglich des sogar höheren Anschauungswerts von idealtypisch nachgeformten Gipsabgüssen sein oder bezüglich des Mehrwerts von Repliken, welche gar die Fehler vormals unzulänglich präsentierter Originale ausbessern – so etwa geschehen beim Nachbau des berühmten „Kultwagens von Strettweg“. In ein dagegen eher dunkles, manchmal aber auch heiteres Kapitel der archäologischen Fälschungsgeschichte führen schließlich zweifelhafte ‚Funde‘, welche wohl aus den Werkstätten der eigenen Zunft stammen, sei es, um damit wissenschaftlichen Ruhm zu generieren oder die Kolleg*innenschaft zum Besten zu halten.
In spannender Verbindung zwischen Musik‑ und Religionsgeschichte konzentriert sich Franz Karl Praßl auf die Spuren von oft erst auf den zweiten Blick erkennbaren, jedoch gewichtigen textuellen Fremdübernahmen in volkssprachlichen Kirchenliedern im Kontext der protestantischen Reformation und katholischen Gegenreformation. Bezogen u. a. auf die „Gesang Postill“ und das „Gesangbuch“ der Grazer Kirchenliedverfasser Andreas Gigler und Nikolaus Beuttner werden stillschweigende Übernahmen sowie subtile Weglassungen aus bekannten Vorlagen zu beredten Zeugen des eigenen Rechtgläubigkeitsanspruchs – zentral waren dabei die Rolle der Heiligen und insbesondere der fürsprechenden Gottesmutter Maria. Aber wie in allen übrigen Beiträgen treten auch bei diesem Fachthema graduelle Beurteilungen an die Stelle vereinfachter Schwarz-weiß- bzw. Freund‑Feind‑Nachzeichnungen, denn zum einen scheinen viele dieser fälschungsähnlichen Prozesse in der heiklen Übergangsphase zwischen Katholizismus und Protestantismus wohldosiert, also fein abgestuft, zum andern wird dahinter neuerlich sichtbar, dass der moderne Urheberschutz gegenüber Nachahmungen und Fälschungen nur sehr bedingt auf die früheren Vorstellungen von einem Recht auf geistiges Eigentum anzuwenden ist.
In die jüngste Vergangenheit und in einen wichtigen zusätzlichen Aspekt des Fälschungsthemas führen die geheimdienstwissenschaftlichen Recherchen von Siegfried Beer: Er beleuchtet an den berührenden Fällen zweier steirischer Widerstandskämpfer, die im zweiten Weltkrieg als Kollaborateure der amerikanischen und der britischen Besatzung eine tarnende neue Identität annahmen, wie problematisch und nachhaltig die Qualifizierung als ‚Verräter‘ ist. Namentlich sind es der im Ausland wirkende Radiopfarrer Dr. Elmar Eisenberger und der wagemutig übergelaufene Soldat Emmerich Kohl, deren Biographien sowohl Fragen zur Treuepflicht gegenüber einem Unrechtsregime aufwerfen als auch Fragen dazu, warum ihre nachkriegszeitliche Legitimierung und Rehabilitierung durch den – von ihnen erträumten und aktiv unterstützten – Freiheitsstaat Österreich erst Jahrzehnte später möglich wurde und selbst das nur unter Mitwirkung von schicksalhaften Zufällen.
Am Ende findet sich die Erkenntnis, dass speziell im Umfeld von Täuschung und (Identitäts‑)Fälschung für eine verantwortungsvolle Geschichtsaufarbeitung kein Fall dem anderen völlig gleicht und daher nur das Eingehen auf die individuellen Beweggründe für so etwas wie historisch gerechte und zugleich erkenntnisreiche Beurteilungen sorgen kann.
Fazit und Ausblick
Schon angesichts dieser zahlreichen, nunmehr auch publiziert vorliegenden Erkenntnisse aus der Ringvorlesung „Fälschung!“ hat es sich gewiss gelohnt, der eingangs erwähnten Krise getrotzt zu haben: Viele der allgemeinen, über Raum und Zeit hinweg gültigen Forschungsperspektiven zwischen den graduell (!) miteinander verbundenen Polen von Wahrheit und Fiktion, Sein und Schein, Wissen und Vermutungen sind nämlich mittlerweile sogar noch bedeutsamer geworden. Die schon für 2021 geplante, doch wegen der pandemischen Notlage verschobene Buchpräsentation wird am 9. März um 19 Uhr im Steiermärkischen Landesarchiv stattfinden – passenderweise gleich im Anschluss an eine der Einheiten der neuen, wieder auf aktuelle Zeitläufte reagierenden Ringvorlesung „Umbruchszeiten. Epochale Krisen und Neuanfänge im Spiegel der steirischen Landesgeschichte“.[5]
Anmerkungen
[1] Wernfried Hofmeister (Hg.): Fälschung! Eine fächerübergreifende Spurensuche in der steirisch-innerösterreichischen Landesgeschichte (= Memoranda Styriaca. Lehrkooperationsbeiträge Uni Graz - Historische Landeskommission für Steiermark 2, Graz 2021) [in Folge: Hofmeister, Fälschung!].
[2] Vgl. dazu den Blogbeitrag „Steirische Geschichtsforschung im Hörsaal“ vom 20. März 2020. Wie schon für die 1. Ringvorlesung fungierte wieder W. H. als Lehrveranstaltungskoordinator.
[3] Wernfried Hofmeister (Hg.): Mythos.Macht.Geschichte. Historische Konstruktionen des Erinnerungsraumes Steiermark und Innerösterreich (= Memoranda Styriaca. Lehrkooperationsbeiträge Uni Graz - Historische Landeskommission für Steiermark 1, Graz 2019).
[4] Wie abgedruckt im Vorwort des Herausgebers und Blog-Beitragsverfassers (Hofmeister, Fälschung! 9–13).
[5] Siehe dazu die weiteren Informationen unter URL: https://www.hlk.steiermark.at/cms/beitrag/12854518/97168055/
Neuerscheinung:
Wernfried Hofmeister (Hg.): Fälschung! Eine fächerübergreifende Spurensuche in der steirisch-innerösterreichischen Landesgeschichte (= Memoranda Styriaca. Lehrkooperationsbeiträge Uni Graz – Historische Landeskommission für Steiermark 2, Graz 2021), 308 Seiten ( Inhaltsverzeichnis)
Das Buch ist im Buchhandel oder bei der HLK (Karmeliterplatz 3, 8010 Graz, 0316/877-3013, hlk@stmk.gv.at) um € 60,- erhältlich.
Ao. Univ.-Prof. Dr. Wernfried Hofmeister, Studium der Germanistik und Anglistik in Graz, Promotion 1981, nach Habilitation 1995 Ao. Univ.-Prof. für Deutsche Sprache und Ältere Deutsche Literatur am Institut für Germanistik der Universität Graz, seit 2019 Geschäftsführender Sekretär der Historischen Landeskommission für Steiermark. Forschungsschwerpunkte: Editionswissenschaft, historische Metaphern- und Phraseologieforschung, spätmittelalterliche Dichtung, regionale Literaturforschung und ihre mediale Vermittlung.