Der letzte Herzog von Steiermark: Kaiser Karl I. von Österreich und die Steiermark – eine Spurensuche zum 100. Todestag
Peter Wiesflecker
Am 1. April 1922 starb der letzte österreichische Kaiser Karl I. (1887–1922) auf der Atlantikinsel Madeira, die man ihm und seiner Familie nach seinem zweiten Restaurationsversuch in Ungarn, den er im Herbst 1921 unternommen hatte, als Exilort zugewiesen hatte. Die Beisetzung Karls in der Bergkirche Nossa Senhora do Monte fand am 4. April 1922 statt. Eine Überführung des Sarges in die Wiener Kapuzinergruft unterblieb, vorerst aus politischen Gründen; sie ist – wie sein ältester Sohn und Erbe Otto von Habsburg wenige Jahre vor seinem Tod noch einmal bekräftigen sollte – nicht mehr geplant. Nur das Herz des Kaisers, das dem Verstorbenen seinerzeit entnommen worden war, wurde 1971 in der neuen habsburgischen Familiengruft im einstigen Hauskloster Muri (Schweiz) beigesetzt.
Der Tod des Kaisers fand in der zeitgenössischen Berichterstattung ein breites Echo und seine Person eine, je nach politisch-ideologischem Standort unterschiedliche Würdigung, wobei keine Seite vor jenen Zuschreibungen und Stereotypisierungen gefeit war, die Bild und Wahrnehmung des Monarchen bereits zuvor und insbesondere in den folgenden Jahrzehnten, mitunter in Ausklängen sogar bis heute, bestimmen sollten.
In nahezu allen Zentralorten Österreichs und Ungarns fanden in den ersten Apriltagen kirchliche Trauerfeiern für den verstorbenen Monarchen statt. Die Teilnahme von Mitgliedern der österreichischen Bundesregierung am Requiem im Wiener Stephansdom hatte eine scharfe Replik und Debatte von sozialdemokratischer Seite zur Folge. Beim Trauergottesdienst in der Budapester Kathedrale hingegen galt das Interesse vor allem der Anwesenheit von Reichsverweser Horthy, dem Gegenspieler Karls bei dessen Versuchen, den ungarischen Thron zurückzugewinnen. Auch in den Hauptstädten der einstigen habsburgischen Kernländer fanden Trauergottesdienste statt. In Salzburg hatte Fürsterzbischof Ignatius Rieder das Requiem geleitet. Im Grazer Dom feierte man am 5. April 1922 um halb acht Uhr früh ein feierliches Pontifikalrequiem, dem – wie die Reichspost wenige Tage später ihren Lesern berichtete – Dompropst Franz Oer unter großer Assistenz des Domkapitels[1] vorgestanden war. Am Abend des gleichen Tages zelebrierte der Guardian der Grazer Franziskaner in deren Klosterkirche in der Grazer Innenstadt ein zweites Requiem. Beide Gottesdienste, die der „Reichsbund der Österreicher“, das Sammelbecken der österreichischen Legitimisten, organisiert hatte, waren laut Zeitungsmeldungen überaus gut besucht gewesen: Anlässlich des Todes ... wurden in Graz in der Franziskanerkirche und in der Domkirche feierliche Requiem [sic!] unter großer geistlicher Assistenz abgehalten. Die kirchliche Trauerfeier war eine imposante Kundgebung aller Schichten der Bevölkerung und tausende von Menschen strömten den beiden Kirchen zu. Von den umliegenden Gemeinden waren ebenfalls Abordnungen erschienen. In erhebender Weise kam zum Ausdruck, wie tief das Andenken an den Kaiser in den Herzen der Bevölkerung wohnt. Besonders betont sei auch, daß vor und während der Requiem eine auffallend große Zahl der Trauernden die Sakramente empfingen. Auch in den übrigen Teilen der Steiermark fanden Trauerkundgebungen unter massenhafter Beteiligung der städtischen und ländlichen Bevölkerung statt.[2]
Die bis dahin letzte kirchliche Feier, die zu Ehren Karls in Graz angesetzt worden war, war in die letzten Tage des alten Österreichs gefallen. Am 4. November 1918 hätte auf Einladung von Fürstbischof Leopold Schuster ein feierliches Te-Deum anlässlich des Namenstags des Kaisers stattfinden sollen, zu der die Spitzen von Politik, Militär und Verwaltung geladen waren. Mit Blick auf die durch die gegenwärtigen Verhältnisse bedingte hochgespannte Erregung der Bevölkerung hatte man damals vorerst das Rahmenprogramm reduziert, denn die Statthalterei hatte den teilnehmenden Beamten geraten, jedwedes Aufsehen, wie z. B. ... Anlegen von Beamtenuniform, korporatives Auftreten, Ansammlung vor der Domkirche ... usw. unbedingt zu vermeiden und sich einzeln und direkte in Zivilkleidung (mit Zylinder) zu den üblichen Plätzen in die Kirche zu begeben. Schließlich wurde die Feier überhaupt abgesagt. Eine gleiche Weisung ging auch an alle Mittelbehörden, vor Ort keine Feiern anlässlich des Namenstages mehr abzuhalten.[3]
Karl von Österreich war der letzte in der langen Reihe habsburgischer Landesfürsten der Steiermark, die 1282 mit der Belehnung der Söhne König Rudolfs I, Albrecht und Rudolf, mit den babenbergischen Ländern ihren Anfang genommen hatte. Als Herzog von Steiermark war Karl – nach Kaiser Karl V., Karl II. von Innerösterreich und Kaiser Karl VI. – der vierte seines Vornamens und seit der Neuzeit zudem einer der wenigen habsburgischen Dynasten, der sich – wenngleich am äußersten privaten Rand – in der Steiermark gewissermaßen verortet hatte. Sein Vorgänger Kaiser Franz Joseph I. (1830–1916) hatte dieses Kronland mitunter als ‚Privatmann‘ besucht, so in seinen jungen Jahren als Jagdgast seines Großonkels Erzherzog Johann (1782–1859) oder in späterer Zeit, wenn er ärarische Domänen, von denen Mürzsteg die bedeutendste war, für die Jagd nützte. Die offiziellen Aufenthalte dieses Kaisers im Land waren selten und zumeist besonderen Ereignissen geschuldet, wie der 700-Jahrfeier Mariazells im Jahr 1857 oder dem 600. Jahrestag der Belehnung der Habsburger mit der Steiermark 1882.[4]
Karl hingegen war seit 1913 Besitzer von Schloss Feistritz bei Kammersberg. Gemeinsam mit seiner Gemahlin, der Bourbonenprinzessin Zita von Parma (1892–1989), hatte er diesen obersteirischen Besitz erworben,[5] der der jungen Familie – so zumindest der Plan – als Buen retiro für jene Zeit hätte dienen sollen, in der der Erzherzog noch nicht Thronfolger war.
Sowohl Karls familiäres Umfeld wie seine Biographie wiesen darüber hinaus einige ‚steirische‘ Bezüge auf.[6] Sein Großvater, der Kaiserbruder Erzherzog Carl Ludwig (1833–1896), hatte nach einem Zwischenspiel als Statthalter von Tirol gemeinsam mit seiner zweiten Frau, der neapolitanischen Prinzessin Maria Annunziata (1843–1871), als letzter Habsburger offiziell in Graz Aufenthalt genommen, wenngleich nur für wenige Jahre. Diese Jahre hatte das Paar im Palais Küenburg in der Sackstraße verlebt. Dort war 1863 nicht nur ihr ältester Sohn, der spätere Thronfolger Franz Ferdinand (1863–1914), zur Welt gekommen, sondern auch ihr Zweitgeborener, Karls Vater Otto (1865–1906). Aus der Grazer Zeit der Großeltern hat sich in den heute im Steiermärkischen Landesarchiv verwahrten Auftragsbüchern des Grazer Fotografen Leopold Bude eine Aufnahme des Paares erhalten (siehe Abb. 3).
Karl selbst verband mit der Steiermark seine inoffizielle Verlobung mit Zita von Parma im Mai 1911. Auf Einladung seiner Stiefgroßmutter Erzherzogin Maria Theresia (1855–1944), die zugleich Zitas Tante war, war der Erzherzog zur Auerhahnjagd nach St. Jakob im Walde gekommen, wo die Erzherzogin ein Jagdhaus besaß. Im niederösterreichisch-steirischen Grenzgebiet hatte bereits Zitas Vater, Herzog Robert von Parma (1848–1907), ein Jagdrevier erworben und so seine Schwägerin mit dieser Region vertraut gemacht. Von Erzherzogin Maria Theresia in den Jahren davor diskret gelenkt, fiel im steirischen St. Jakob Karls endgültige Entscheidung, um die Hand der jungen Bourbonin anzuhalten, die ihm von Kindheit an bekannt war und für die er nicht nur freundschaftliche Vertrautheit, sondern zunehmend Sympathie und Zuneigung empfand. Dass er bei der jungen Prinzessin eine ihm ähnliche, auf tiefer Religiosität ruhende Grundhaltung feststellen konnte, hatte seinen Entschluss zweifelsohne gefördert. Ihre Hochzeitreise sollte das junge Paar im Herbst 1911 erneut in die Steiermark führen. Von der Villa Wartholz bei Reichenau aus nahmen Karl und Zita den Weg in den steirischen Wallfahrtsort Mariazell, dem beide zeitlebens eng verbunden bleiben sollten und der in den folgenden Jahrzehnten zu einem Ort besonderer familiärer Memoria ihrer Kernfamilie wurde und bis heute geblieben ist.
Person und Persönlichkeit des letzten österreichischen Kaisers werden nach wie vor höchst unterschiedlich beurteilt und der Diskurs über seine politische Rolle hatte anlässlich seiner Seligsprechung durch Papst Johannes Paul II. am 3. Oktober 2004 seinen bisher letzten Höhepunkt erreicht. Trotz Fehleinschätzungen und mancher Fehlentscheidung wird man Karl, der seinem greisen Großonkel Franz Joseph am 21. November 1916 auf den Thron der Doppelmonarchie gefolgt war, zugestehen müssen, die politische, militärische und wirtschaftliche Lage, in der sich sein Reich bei seinem Regierungsantritt bereits befunden hatte, grundsätzlich richtig eingeschätzt zu haben. Wenngleich in seinen Versuchen, einen Ausgleich zwischen den divergierenden nationalen und politischen Interessen zu finden, gescheitert, gilt für ihn, dass er als einziger der kriegführenden Monarchen des Ersten Weltkrieges ernsthafte Versuche unternommen hatte, den Krieg zu beenden. Seine Initiativen waren im Weg fürstlicher Geheimdiplomatie erfolgt. Über zwei Brüder der Kaiserin, Sixtus (1884–1934) und Xavier (1889–1977) von Bourbon-Parma, hatte Karl mit der Entente Kontakt aufgenommen. Als diese Bemühungen im Sommer 1918 publik wurden, reagierte der deutsche Verbündete darauf empört. Der Kaiser sah sich gezwungen, die Dokumente, die von französischer Seite veröffentlicht worden waren, als Fälschung zu bezeichnen. Damit hatte er auch in den Augen der Entente jeden Kredit verspielt. Noch schwerer wog, dass auch in einer zunehmend breiter werdenden österreichischen Öffentlichkeit das Ansehen des Kaisers nachhaltig beschädigt war. Insbesondere in der deutschnationalen, zum Teil von der deutschen Heeresleitung gesteuerten Propaganda wurde der Kaiser zum eidbrüchigen Verräter gestempelt, der seiner Frau und einer klerikalen Hofkamarilla völlig ausgeliefert sei.
Das Völkermanifest vom 16. Oktober 1918, das den Umbau des Reiches in einen Bundesstaat vorsah, konnte die auseinanderstrebenden Völker des Reiches nicht mehr an die Dynastie binden. Die Monarchie war am Ende, die Nachfolgestaaten formierten sich bereits. Nach zähen Verhandlungen wurde am 11. November 1918 eine Erklärung formuliert, für die die Diktion vom Verzicht [des Kaisers] an seinem Anteil an den Regierungsgeschäften gefunden wurde. In den Abendstunden dieses Tages verließen Karl und Zita mit ihren Kindern und einem kleinen Gefolge Schloss Schönbrunn und zogen sich vorerst in das kaiserliche Jagdschloss Eckartsau zurück. Tags darauf wurde in Wien die Republik ausgerufen.
„Nach diesem Zwischenfall ging die Fahrt ganz glatt weiter.“ Die Besetzung des Brucker Bahnhof anlässlich der Rückreise Kaiser Karls aus Ungarn im Frühjahr 1921
Am 13. November 1918 gab Karl als ungarischer König eine Erklärung ab, die sich an jener bezüglich Österreichs orientierte. Beide beinhalteten jedoch explizit keinen Thronverzicht. Einen solchen sollte der Kaiser resp. König zeitlebens ablehnen. Am 1. März 1920 war der ehemalige kaiserliche Offizier Nikolaus von Horthy (1868–1957) von der ungarischen Nationalversammlung zum Reichsverweser gewählt worden. Die konservativen Parteien waren hinsichtlich ihrer Stellung zum gekrönten ungarischen König gespalten. Die ungarische Verfassung des Jahres 1920 sah vor, dass Ungarn weiterhin ein Königreich war, die königliche Gewalt jedoch derzeit nicht ausgeübt wurde bzw. werden konnte. Dies bedeutete vorerst eine Art Burgfrieden zwischen jenen, die für die Rückkehr des angestammten Monarchen und seines Hauses eintraten, und den Anhängern einer freien Königswahl.
Im Frühjahr 1921 unternahm Karl, der Österreich im April 1919 verlassen hatte, von seinem Schweizer Exil aus einen ersten Restaurationsversuch in Ungarn. Er war von Prangins über Straßburg nach Wien aufgebrochen und hatte diesen Teil der Reise mit dem Zug zurückgelegt. Von Wien aus war er mit einem Automobil nach Steinamanger (Szombathely) weitergereist. Am 27. März 1921 traf er in Budapest ein. Reichsverweser Horthy weigerte sich jedoch, dem König die Herrschaft in Ungarn zu übergeben. Karl musste unverrichteter Dinge nach Steinamanger zurückkehren und Ungarn am 5. April verlassen. War die Einreise des Monarchen in Ungarn unter größter Geheimhaltung erfolgt, so galt seiner Ausreise nunmehr größte Aufmerksamkeit. Die Entente und die Nachfolgestaaten der Monarchie protestierten, die Eidgenossenschaft zeigte sich über Karls Aktion verstimmt, gestattete jedoch eine Rückkehr in die Schweiz, wenngleich nicht in den bisherigen Aufenthaltsort Prangins. Auch im Wiener Parlament gingen die Wogen hoch. Otto Bauer verlangte die formelle Verhaftung des Habsburgers und forderte, dieser dürfe die Rückreise in die Schweiz nur als Gefangener antreten.[7]
Die Rückreise sollte den Kaiser durch österreichisches Staatsgebiet führen. Aus Wien wurde zu diesem Zweck ein Sonderzug in die Steiermark gebracht, mit dem Karl von Fehring aus am 5. April 1921 seine Reise durch Österreich antreten sollte, die eine Route über Graz, Bruck an der Mur, Selzthal, Bischofshofen, Innsbruck nach Buchs (Schweiz) vorsah, wo der Zug am 6. April 1921 um 11.40 Uhr eintreffen sollte.
Über Graz, dessen Bahnhof für das Publikum ab 16 Uhr gesperrt wurde, führte der Zug nach Frohnleiten. Dort wurde er gestoppt, nachdem Landeshauptmann Rintelen die Mitteilung erhalten hatte, dass in Bruck ein Passieren des Zuges nicht gewährleistet sei, ja sogar schwere Ausschreitungen zu befürchten seien. In Bruck war in den Morgenstunden des 5. April bekannt geworden, dass der ehemalige Kaiser auf seiner Rückreise auch diesen steirischen Industrieort passieren werde. Bereits um 6.30 Uhr hielten sich rund 2.000 Personen in und um das Brucker Bahnhofsgebäude auf. Im Laufe des Vormittags stieg ihre Zahl auf 3.000, nach anderen Quellen sogar bis auf 7.000 Personen an. Die Stimmung unter den Anwesenden, die sich nicht nur aus Bruck, sondern auch aus anderen obersteirischen Industrieorten am Bahnhof eingefunden hatten, war durchaus explosiv. Der am Bahnhof anwesende Brucker Bezirkshauptmann machte der Landesregierung in Graz Mitteilung, worauf Rintelen den Zug in Frohnleiten anhalten ließ. Gegenüber dem Bezirkshauptmann und der Gendarmerie sicherte der Brucker Bürgermeister Anton Pichler zu, dass der Zug mit Karl Bruck ungehindert werde passieren können. Von Bruck aus hatte sich schon zuvor eine Abordnung sozialdemokratischer Vertrauensleute nach Frohnleiten aufgemacht, um über die Weiterfahrt des Sonderzuges zu verhandeln. Nach den Aufzeichnungen Aladárs von Boroviczényi, der zur Begleitung des ehemaligen Kaisers gehörte, habe Karl auf die Mitteilung, die Demonstranten in Bruck würden eine dezidierte Abdankungserklärung fordern, mit den Worten reagiert, dass er sich lieber tausendmal erschlagen lasse, als diese Erklärung abzugeben.[8]
Hinter den Kulissen liefen in der Zwischenzeit Verhandlungen, die eine Weiterfahrt ermöglichen sollten und in die – neben den sozialdemokratischen Funktionären und Mandataren in Bruck rund um Bürgermeister Pichler – die Landesregierung in Graz, das Ministerium des Innern und der Parteivorstand der Sozialdemokraten in Wien involviert waren. Die den Sonderzug begleitenden Offiziere der Entente forderten den ebenfalls mitreisenden sozialdemokratischen Nationalratsabgeordneten Albert Sever auf, für eine rasche Weiterfahrt und ein ungehindertes Passieren von Bruck zu sorgen. Dort trat Bürgermeister Pichler um 21.30 Uhr vor die Demonstranten, versuchte die Massen zu beruhigen und vor allem davon zu überzeugen, den Zug ungehindert passieren zu lassen. Die Situation blieb trotz Pichlers Appelle weiter stark gespannt und unter den Anwesenden machte sich sogar eine Missstimmung gegen den Bürgermeister und die anwesenden Wachorgane breit. Pichler versuchte die Menge zu beruhigen und teilte mit, er werde sich nun mit einer Delegation nach Frohnleiten aufmachen, um Karl den Protest der Brucker Demonstranten zu überbringen. Dort war man über die Zusammensetzung der aus Bruck avisierten Delegation im Unklaren und überlegte vorerst, den aus Bruck kommenden Zug nach Graz weiterzuleiten, um jede Eskalation zu vermeiden. Schließlich einigte man sich darauf, den Salonwagen des Kaisers aus Frohnleiten Richtung Graz abfahren zu lassen. Dies sollte für den Fall des Falles eine Flucht des Kaisers über Graz nach Süden ermöglichen. Doch nach knapp zehn Kilometern wurde auch der kaiserliche Salonwagen wieder angehalten. Vor Ort verhandelte Pichler mit Sever und den Offizieren der Entente. Während der begleitende englische Offizier eine Weiterfahrt nach Bruck und entsprechende Garantien verlangte, sprachen sich sein französischer und italienischer Kollege für eine Rückfahrt Karls nach Ungarn aus. Schließlich einigte man sich darauf, dass die Demonstranten den Brucker Bahnhof zu verlassen hätten. Nur rund 250 sozialdemokratische Vertrauensleute durften sich am Areal aufhalten. Rund 40 Demonstranten aus Bruck hatten zwischenzeitlich einen weiteren nach Graz fahrenden Personenzug bestiegen, um auf eigene Faust vorzugehen. Der Zug wurde ohne Zwischenstopp bis nach Graz geführt. Gemeinsam mit einigen hundert in Graz wartenden Demonstranten besetzten sie den Grazer Bahnhof, um eine mögliche Rückfahrt Karls nach Ungarn zu verhindern.
Die Landesregierung kommandierte 40 Gendarmen nach Frohnleiten, deren Abfahrt am Grazer Bahnhof jedoch von den Demonstranten verhindert wurde. Hierauf schickte man mehrere Fahrzeuge nach Frohnleiten, die Karl – falls erforderlich – mittels eines Automobils in Sicherheit bringen sollten. Dieser Plan schien dann doch zu riskant und wurde fallengelassen, zumal Pichler für eine Weiterfahrt durch Bruck garantierte. In Bruck war inzwischen das Ergebnis der Verhandlungen in Frohnleiten bekannt gegeben worden, und ein Großteil der Anwesenden quittierte diese Eröffnungen mit lautstarkem Protest und Schmährufen gegen die anwesenden sozialdemokratischen Funktionäre, die für die Räumung des Bahnhofes zu sorgen hatten. Auch gegen den Bürgermeister selbst richtete sich der Protest.
Gegen zwei Uhr hatte der von Pichler eingerichtete Ordnungsdienst den Bahnhof geräumt. Nur einige hundert Arbeiter – nach anderen Berichten waren es nur 200 – durften sich im Bahnhof aufhalten, um in Form einer stillen Demonstration gegen den ehemaligen Kaiser zu demonstrieren. Reisende, die auf ihre Züge warteten, hatten den Perron zu verlassen und sich im Warteraum aufzuhalten. Schließlich wurde Sever die Mitteilung gemacht, dass der Zug in Frohnleiten abfahren könne.
Als der Zug um 2.46 Uhr früh in Bruck eintraf, wurde er – wie es in einem Bericht des dortigen Gendarmeriepostens heißt – mit großem Geschrei empfangen. Pichler hielt eine kurze Rede, in der er beiläufig sagte: Exkaiser Karl, den niemand will, sei wieder da, wogegen wir uns verwahren und brachte schliesslich ein Hoch auf die Republik aus, was überlauten Widerhall fand. Als sich der Zug nun nach ca. 10 Minuten zur Abfahrt in Bewegung setzte, hörte man Rufe wie: Massenmörder, Pfui, Abzug und ähnliche. Um 3h 30 min war vollkommene Ruhe wiederhergestellt.
Die weitere Fahrt des Zuges verlief ohne jeden Zwischenfall. Sever informierte von Leoben aus sozialdemokratische Vertrauensleute in Stationen der Reiseroute und ersuchte diese, dafür Sorge zu tragen, dass der Zug ungehindert passieren könne. Er erreichte um 16.53 Uhr das schweizerische Buchs. Der Salonwagen wurde abgekuppelt und an einen nach Luzern fahrenden Zug angehängt. Der Sonderzug mit der österreichischen Begleitung kehrte nach Wien zurück.
Karls Sekretär Karl Werkmann veröffentlichte 1925 Aufzeichnungen des Kaisers, die auch seine Sicht der Fahrt durch die Steiermark zum Inhalt hatten:[9] Wir fuhren nun über die Laßnitzhöhe nach Graz. Wo keine Gendarmen standen, winkten die Leute wie in alten Zeiten. In Graz hielten wir außerhalb des Bahnhofes. Es waren dort sehr verdächtige Gestalten zu sehen. Wir wurden dann in Frohleiten angehalten und blieben dort sechs Stunden und zehn Minuten stehen. Der Grund war, wie mir erzählt wurde, daß die Kommunisten den vorhergehenden Schnellzug ganz durchsucht hatten, um mich zu finden. ... Die Kommunisten wollten dann eine Deputation zu mir entsenden, um mich aufzufordern, nicht mehr nach Österreich zurückzukehren. Dies wurde von den Ententevertretern abgelehnt. Ebenso ein Empfang durch diese. ... Wir nützen den Zwischenfall aus und trachteten zu erreichen, daß die Entente den Zug wieder nach Ungarn zurückfahren lasse. Ich ließ die Ententevertreter durch Borovicsény aufstacheln. Der Franzose, der sehr an Migräne litt, und der Italiener waren schon dafür gewonnen. Nur der Engländer wollte nicht. Er sagte, man könne das nicht ohne Gesandtschaft machen, er meinte: ‚I'll knock them out.‘ Überhaupt hat er am meisten mit dieser Gesellschaft verhandelt und er fuhr auch nach Bruck voraus. Dem Zuspruch der Genossen Sewer [sic!] und Müller, sie mögen die Partei in keine Verlegenheit bringen, gelangt es schließlich, ... die Versicherung freier Durchfahrt zu erlangen.
Um halb zwei Uhr früh fuhren wir von Frohnleiten weg. Wir kamen zehn Minuten später nach Bruck, wo zehn Minuten Aufenthalt war. Die Kommunisten waren im Restaurant und sollen die Fensterscheiben zerschlagen und gegen den Perron zu gedrängt haben. Die Volkswehre stand da und sollte das verhindern. Als die Situation kritisch wurde, ließ der Ententeoffizier laden. Daraufhin wich die Volkswehr nach rechts und links aus. Dies sollte wohl ein Zeichen der Souveränität sein. Man hörte im Wagen gut, wie die Masse gröhlte. Ein Volksredner schrie fortgesetzt: ‚Nieder mit der Monarchie!‘ und ‚Hoch die Republik!‘ und daß ich ein Massenmörder sei. Das soll der Bürgermeister von Bruck gewesen sein. Nach diesem Zwischenfall ging die Fahrt ganz glatt weiter.[10]
Karl unternahm im Oktober 1921 in Begleitung der Kaiserin einen zweiten Restaurationsversuch in Ungarn, der jedoch ebenfalls scheiterte. Das Paar wurde vorerst in Ungarn interniert. Schließlich wurde ihm die Insel Madeira als künftiger Aufenthaltsort zugewiesen, wo der Kaiser am 1. April 1922 starb.
Nachklänge
Das Eigentum Karls und Zitas an Schloss Feistritz war durch den im sog. Habsburgergesetz (1919) verfügten Vermögensverfall nicht berührt, da sich dieser auf das fideikommissarische Vermögen des Kaiserhauses bezog, nicht jedoch auf das Privateigentum einzelner Mitglieder. Karls Nachlass wurde 1925 durch das Bezirksgericht Wien-Innere Stadt abgehandelt. Der steirische Besitzanteil von Karl Habsburg-Lothringen, gewesenen Kaiser von Österreich und König von Ungarn wurde – wie das Grundbuch vermerkt – seiner Witwe Zita Habsburg-Lothringen eingeantwortet.[11]
Schloss Feistritz wurde im Juni 1938 zugunsten des Deutschen Reichsschatzes beschlagnahmt und 1942 als volks- und staatsfeindliches Vermögen zugunsten des Deutschen Reiches eingezogen. Im September 1949 wurde der Besitz mit Bescheid der Finanzlandesdirektion für Steiermark an die damals noch in den USA lebende kaiserliche Witwe rückgestellt.[12]
Zwischenzeitlich gab es bereits Pläne für eine neue Nutzung des Objekts. Seit 1945 war der Gründer und erste Direktor des Volksbildungsheimes in St. Martin, Josef Steinberger, auf der Suche nach einem geeigneten Objekt in der Obersteiermark, in dem eine Zweiganstalt seiner Schule eingerichtet werden könnte. Das Schloss Feistritz schien dafür passend, und im Februar 1950 konnte der Pachtvertrag zwischen Zitas Rechtsvertretern und dem Land Steiermark fixiert werden. Im Oktober 1955 ging Schloss Feistritz durch Kauf in den Besitz des Landes Steiermark über.[13]
Nach den Turbulenzen der sog. Habsburg-Affäre in den 1960er-Jahren, in der sich die Regierungsparteien ÖVP und SPÖ über die Bewertung der von Otto von Habsburg abgegebenen Verzichtserklärung nicht einig waren, leitete die Kanzlerschaft Bruno Kreiskys schließlich ein entspannteres Verhältnis der Sozialdemokraten zur ehemaligen Dynastie ein, symbolisch festgemacht am Handschlag zwischen Kreisky und dem habsburgischen Familienchef anlässlich eines Paneuropa-Kongresses in Wien im Jahr 1975. Nach wie vor Gültigkeit hatte jedoch das Einreiseverbot für die letzte Kaiserin, wenngleich dies weniger juristische als vielmehr politische Gründe hatte. Zita war zwar Gemahlin des letzten Kaisers, konnte jedoch nicht aus eigenem Recht Herrschaftsansprüche erheben. Nach einer Intervention des spanischen Königs Juan Carlos I. bei Kreisky wurde Zita im Mai 1982 die Einreise nach Österreich gestattet.
In den folgenden Jahren diente Schloss Waldstein, der steirische Besitz ihres Schwiegersohnes Heinrich Liechtenstein (1916–1991), der 1949 Zitas jüngste Tochter Elisabeth (1922–1993) geheiratet hatte, der ehemaligen Kaiserin als Sommersitz. Der Tagesablauf in der Steiermark unterschied sich nicht wesentlich von jenem im Johannesstift im schweizerischen Zizers, in dem Zita seit 1962 ihren ständigen Wohnsitz hatte.
Der erste Aufenthalt in der Steiermark seit 1918 führte Zita im Sommer 1982 auch an einige Orte außerhalb der engeren Umgebung Waldsteins, zu denen sich sehr persönliche Bezüge herstellen ließen. Am 27. August 1982 kam Zita nach Schloss Feistritz. Am 1. September 1982 besuchte die Kaiserin Mariazell. Eine weitere Reise in die Vergangenheit war im Jahr darauf der Besuch von St. Jakob im Walde am 17. Juli 1983. Auch die Sommermonate der nächsten Jahre verbrachte Zita in der Steiermark.[14] Auf ihrem letzten Weg im März 1989, der Überführung von Zizers nach Klosterneuburg und Wien, wurde steirisches Gebiet nicht berührt. Hingegen war Mariazell eine der Stationen anlässlich der Trauerfeierlichkeiten für ihren Sohn Otto im Juli 2011. An den letzten österreichischen Kaiser, der zugleich auch der letzte Herzog von Steiermark war, erinnert heute eine Reliquie in der Kapelle von Schloss Waldstein.
Anmerkungen
[1] Reichspost (7. 4. 1922), 3.
[2] Reichspost (8. 4. 1922), 3.
[3] StLA, Statthalterei, K. 913, Präs. A 1a-2846/1918. Zu solchen Feierlichkeiten in den letzten Jahren der Monarchie exemplarisch Peter Wiesflecker, „... soviel Volk wie noch nie ...“. Kaiserfeiern im Ersten Weltkrieg als „Ort“ der Propaganda. In: Josef Riegler (Hg.), „Ihr lebt in einer großen Zeit, ...“. Propaganda und Wirklichkeit im Ersten Weltkrieg (Graz 2014), 65–87, v. a. 84–87.
[4] Peter Wiesflecker, „... durch allen Wandel der Zeiten ... das Gefühl der Liebe und Treue ...“. Stift Rein und die Landesfürsten. In: Reinhard Härtel/Bernhard Hebert u. a. (Hgg.), Markgraf Leopold, Stift Rein und die Steiermark. Archäologisch-historische Aspekte. Beiträge einer interdisziplinären Tagung der Historischen Landeskommission für Steiermark in Stift Rein am 24. und 25. Oktober 2012 (Graz 2015), 51–74.
[5] StLA, BG Oberwölz, KG Feistritz, EZ 1 bzw. US 67/1913.
[6] Vgl. dazu: Peter Wiesflecker, Dynastische Repräsentation und bürgerliche Privatheit. Das letzte österreichische Kaiserpaar und die Steiermark. In: Josef Riegler (Hg.), Miniaturen zur steirischen Landesgeschichte und Archivwissenschaft (Graz 2006), 125–154.
[7] Zur Rückreise Kaiser Karls durch die Steiermark vgl. u. a. Georg Fingerlos, „Ein bissl aufhängen tät' ihm nix schaden!“ Die Reisen des ehemaligen Kaisers Karl I. durch Österreich anlässlich seines ersten gescheiterten Restaurationsversuches in Ungarn (Ostern 1921) unter besonderer Berücksichtigung der Bahnhofsbesetzung in Bruck an der Mur (DiplA. Wien 2004); Peter Wiesflecker, Steirischer Epilog. Die Besetzung des Brucker Bahnhofs anlässlich der Rückreise Kaiser Karls nach dem gescheiterten ersten Restaurationsversuch in Ungarn (April 1921). In: Josef Riegler (Hg.), November 1918. Die Steiermark zwischen Monarchie und Republik. Ausstellungsbegleiter zur Ausstellung im Steiermärkischen Landesarchiv in Graz, November 2008 bis März 2009 (Graz 2008), 73–78.
[8] Aladár von Boroviczényi, Der König und sein Reichsverweser (München 1924).
[9] Karl Werkmann (Hg.), Aus Kaiser Karls Nachlass (Berlin 1925) [in Folge: Werkmann, Nachlass].
[10] Werkmann, Nachlass, 150f.
[11] StLA, BG Oberwölz, KG Feistritz EZ 1.
[12] StLA, BG Oberwölz, KG Feistritz EZ 1 und US 174/1938, US 89/1942 und US 105/1949.
[13] StLA, BG Oberwölz, KG Feistritz EZ 1 und US 50/1956.
[14] Über Kaiserin Zitas Aufenthalte in der Steiermark vgl. auch: Helge Reindl, Zita. Eine Kaiserin kehrt heim 1982–1989. Eine Dokumentation (Wien–Freiburg–Basel 1989).
ArR Priv.-Doz. Mag. DDr. Peter Wiesflecker MAS, LL.M., MA, Studien der Geschichte, Archivwissenschaft, Geschichtsforschung und des Kirchenrechts in Wien und der Religionswissenschaften in Graz, seit 1998 wissenschaftlicher Beamter am Steiermärkischen Landesarchiv; Privatdozent für Österreichische Geschichte an der Universität Graz, Lehrbeauftragter für Archivwissenschaft an der Universität Wien und für Österreichische Geschichte/Archivwissenschaft an der Universität Klagenfurt. Mitglied der Historischen Landeskommission für Steiermark.
Forschungsschwerpunkte: Österreichische Geschichte, Landesgeschichte, Adelsgeschichte, Kirchenrecht, Volkskunde und Archivwissenschaften.