Landvolk unter „Stress“. Projektorientierte Gedanken zur Ausstellung „In einer zerrissenen Zeit. Das Dorf vor hundert Jahren“ im Grazer Museum für Geschichte
Harald Heppner
Den Hintergrund für die Befassung mit diesem Thema stellt das vom Verfasser geleitete Forschungsprojekt „ Zwischen Angst und Hoffnung. Rurale Perspektiven im Zeitalter des großen Krieges“ dar, das der Fonds zur Förderung des wissenschaftlichen Forschung finanziert (2019–2022). Dabei geht es darum, anhand von Fallbeispielen über die historische Untersteiermark (heute: Slowenien) und über Rumänien (Schauplätze in Siebenbürgen und Banat) der Frage nachzugehen, welchen emotionalen Herausforderungen die ländliche Gesellschaft ausgesetzt war, als die Zeit zu „zerreißen“ schien. Dieser Zustand trat in den Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges ein, als der Druck von Stadt und Fabrik auf das Dorf immer mehr zunahm und sich während des Ersten Weltkrieges noch verstärkte, als die Gefühlswelt über Jahre zwischen Angst und Hoffnung oszillierte. Auch nach Kriegsende stand die Gesellschaft unter Anspannung, als der langsam wiederkehrende Alltag eine Reihe fundamentaler Fragen aufwarf.
Ein Kernziel des Projekts gleichwie der Vermittlung der Ergebnisse besteht darin, die „Anatomie“ von Gefühlswelten zu rekonstruieren. Zunächst ist von einem Fundament positiver und negativer Gefühle auszugehen, die aus dem Alltag erwachsen und jeden Menschen einzeln oder als Mitglied jeweder Gruppe betreffen (im vorliegenden Fall die dörfliche Bevölkerung). Darüber gelagert ist ein Emotionensediment, das auf die Bedingungen des jeweiligen Zeitalters zurückzuführen ist (im vorliegenden Fall die Auswirkungen der „Moderne“). Jene beiden Gefühlsschichten werden ab 1914 noch überwölbt durch die kriegsbedingten Impulse, die zu einem enormen seelischen Druck geführt haben. Dabei ist zu unterscheiden zwischen ruralen Regionen, auf deren Boden konkret gekämpft worden ist (z. B. Tirol, Kärnten, Isonzogebiet, Siebenbürgen, Bukowina, Galizien), und der großen Kategorie „Hinterland“. Für den vorliegenden Zusammenhang ebenso wichtig ist, ob zu Kriegsende und danach mittels Grenzziehungen „Bauernland“ neuen und ungewohnten Raumordnungen unterzogen worden ist oder nicht (Steiermark, Tirol, Burgenland, Kärnten).
Wie schon oben erwähnt, geht es in dem FWF-Projekt um slowenische bzw. rumänische Schauplätze (ausgewählt wurden Regionen, die 1918/19 zu Grenzgebieten geworden sind). In dessen Rahmen wird am 9. und 10. Juni 2022 eine Konferenz abgehalten, die den räumlichen Horizont erweitert: Ausgehend vom Kronland Steiermark werden Fallbeispiele zu Kärnten, Tirol, der Isonzo/Soča-Region, Galizien, Siebenbürgen vorgeführt.
Während in Slowenien und Rumänien 2023 kleine Wanderausstellungen vorgesehen sind, um die Ergebnisse einem breiteren Publikum nahezubringen, legt eine Ausstellung am Standort Graz – sie ist zwischen 28. April und 30. Oktober 2022 im Museum für Geschichte (Universalmuseum Joanneum) zu besichtigen – ihr Augenmerk auf die Steiermark.
Die Ausstellung, die den Titel „In einer zerrissenen Zeit. Das Dorf vor hundert Jahren“ trägt, setzt sich aus drei Themenblöcken zusammen: „Im Zwielicht des Fortschritts“, „Die Wucht des Kriegsgeschehens“ und „Banges Warten auf die Zukunft“. Im ersten Abschnitt (Raum 1) wird die Lage bis zum Kriegsausbruch 1914 vor Augen geführt, als die ländliche Gesellschaft einerseits noch sehr stark auf das Dorf als Lebensraum fixiert war, andererseits jedoch die städtische Zivilisation auch am Land um sich zu greifen begonnen hatte.
Jene Periode enthielt nicht nur Hoffnungen, aus dem weitläufig verbreiteten Prekariat herauszukommen, sondern auch Ängste gegenüber den Einflüssen der Außenwelt auf die „Seele“ des Landmenschen. Mit dem Attentat von Sarajevo veränderte sich die Lage schlagartig. Während anfangs noch der Glaube weit verbreitet war, man werde die Strafaktion gegen Serbien rasch beenden können, erwies sich diese Annahme vor dem Hintergrund der Kriegserklärungen bald als großer Irrtum.
Im zweiten Abschnitt (Raum 2) geht es um die Kriegsjahre, als die ländliche Gesellschaft vielfältigen Belastungen ausgesetzt war: Soldaten zu liefern, für die Versorgung auch der Fronten zu sorgen, mit Kriegsgefangenen und Flüchtlingen zurechtzukommen und – in den Kriegsgebieten – die Zerstörung der „eigenen“ Heimat miterleben zu müssen.
Der dritte Abschnitt (Raum 3) ist der Zeit um Kriegsende und den frühen 1920-er Jahren gewidmet, als neue Herausforderungen auftauchten: der Kampf um Nahrungsmittel, der Herrschafts- und Systemwechsel, die Inflation, die Frage der Grenzziehungen sowie die Idee des sozialen Umsturzes zugunsten einer sozialistischen Weltordnung. Die ländliche Gesellschaft sah es als eine der ersten Pflichten gegenüber den „Eigenen“ an, der Gefallenen und Vermissten zu gedenken.
Diese Gegebenheiten, die in der Ausstellung nicht mehr als nur angedeutet werden können, spiegeln sich in Bildern (Ansichtskarten, Fotos, Filmausschnitten), Texten (Zeitungsausschnitten, Plakaten, Zitaten), Tönen (eingesprochenen Kurztexten zeitgenössischer Stimmen) sowie symbolischen Gegenständen wider.
Das Publikum erhält so anhand des Gezeigten einen Zugang zu einer Welt, die in der Vergangenheit versunken zu sein scheint, als das „Dorf“ für die Mehrheit der Bevölkerung noch den gewohnten Lebens- und Denkraum darstellte. Die Zuschauerinnen und Zuschauer haben jedoch die Möglichkeit, sich anhand des Suchens danach, was „zwischen den Zeilen“ zu entdecken ist, sich zur vergegenwärtigen, wieviel der in der Ausstellung enthaltenen Botschaften keinesfalls nur für die Zeit „vor hundert Jahren“ Gültigkeit hat, sondern auch für andere Zeiten zutrifft, die immer wieder „zu zerreissen“ scheinen.
Quellen und Literatur
Archivalische Quellen
- Ansichtskarten- und Bilddarchive: Steiermärkisches Landesarchiv Graz (StLA), Sammlung Walter Lukan Wien, Österreichische Nationalbibliothek Wien, Heeresgeschichtliches Museum Wien
- Gendarmerie- und Schulchroniken: StLA
- Pfarrchroniken: Diözesanarchiv, Graz
- Plakatsammlung: StLA
- Zeitungsarchiv: StLA, Steiermärkische Landesbibliothek
Gedruckte Quellen in Auswahl
- Rosa Fischer, Oststeirisches Bauernleben (Linz 1903).
- Maria Greimel, Mit neun Jahren im Dienst. Mein Leben im Stübl und am Bauernhof 1900–1930 (Wien–Köln–Graz 1983).
- Therese Weber (Hg.), Lebenserinnerungen der Mägde. Geschichten aus der Dienstbotenzeit (Wien–Köln–Weimar 1991).
- Franz Arneitz, „Meine Erlebnisse in dem furchtbaren Weltkriege 1914–1918“. Tagebuch eines Frontsoldaten. Hg. von Andreas Kuchler (Wien 2016).
- Josef Mörwald, Feuerbereit. Kriegstagebuch aus den Karnischen Alpen 1915–17 (München 2014).
- Rosa Scheuringer (Hg.), Bäuerinnen erzählen. Vom Leben, Arbeiten, Kinderkriegen, Älterwerden (Wien–Köln–Weimar 22015)
Fachliteratur in Auswahl
- Alfred Ableitinger (Hg.), Bundesland und Reichsgau. Demokratie, „Ständestaat“ und NS-Herrschaft in der Steiermark 1918 bis 1945, 2 Bde (= Geschichte der Steiermark 9, Wien–Köln–Weimar 2015).
- Ulf Burz (Hg.), Die Republik (Deutsch-)Österreich im ersten Nachkriegsjahrzehnt. Innen- und Außenperspektiven (Wien 2020).
- Harald Heppner/Eduard Staudinger (Hg.), Region und Umbruch 1918. Zur Geschichte alternativer Ordnungsversuche (Frankfurt am M. 2001).
- Jubel & Elend. Leben mit dem grossen Krieg 1914-1918. Katalog (Schallaburg 2014).
- Stefan Karner, Die Steiermark im 20. Jahrhundert. Politik – Wirtschaft – Gesellschaft – Kultur (Graz 22005).
- Helmut Konrad/Petra Greff, 100 Jahre Grenze. Eine Ausstellung in drei Kapiteln (Graz 2018–2019).
- Martin Moll, Die Steiermark im Ersten Weltkrieg. Der Kampf des Hinterlandes ums Überleben 1914–1918 (= Veröffentlichungen der Historischen Landeskommission für Steiermark 43, Wien–Graz–Klagenfurt 2014).
- Josef Riegler (Hg.), November 1918. Die Steiermark zwischen Monarchie und Republik. Ausstellung im Steiermärkischen Landesarchiv in Graz, November 2008 bis März 2009 (= Steiermärkisches Landesarchiv – Ausstellungsbegleiter 6, Graz 2008).
- Josef Riegler (Hg.), „Ihr lebt in einer großen Zeit, ...“. Propaganda und Wirklichkeit im Ersten Weltkrieg (= Veröffentlichungen des Steiermärkischen Landesarchivs 38, Graz 2014).
- Christine Wiesenhofer, Rosa Fischer. Kleinbauerndirndl, Schriftstellerin, Weltbürgerin (Graz 2020).
Ao. Univ.-Prof. i. R. Dr. h. c. mult. Dr. Harald Heppner, Studium der Geschichte und Russisch in Graz, Promotion 1975, Habilitation 1983, 2011 bis 2015 Leiter des Instituts für Geschichte der Universität Graz. Mitglied der Historischen Landeskommission für Steiermark.
Forschungsschwerpunkte: Südosteuropäischen Geschichte, zentraleuropäischen Beziehungen, Geschichte des Donau-Karpatenraumes, das lange 18. Jahrhundert.