Zur „Norischen Hauptstraße“ in der Steiermark*
Manfred Lehner
Einleitung
Als Norische Hauptstraße wird in der österreichischen Provinzialarchäologie der inner- und vorderalpine, die römischen Städte Virunum (Zollfeld, K) und Ovilavis (Wels, OÖ) verbindende Teil jener römischen Straßenverbindung bezeichnet, deren Trassenverlauf bis heute die kürzeste fahrbare Alpentransversale zwischen der Oberen Adria und der Donau darstellt.
Auf der Wasserscheide Sella di Camporosso bei Tarvis überschreitet die Straße die italisch-norische Grenze, quert bei Villach die Drau und führt nördlich am Wörthersee vorbei ins Zollfeld, passiert die antike Provinzhauptstadt Virunum auf einem Straßendamm und führt an Hochosterwitz vorbei ins Krappfeld und nach Friesach.[1] Bei Dürnstein betritt die Straße als B 317 das Gebiet der heutigen Steiermark, um sie am Pyhrnpass als heutige B 138 wieder zu verlassen. Im Verlauf der 108 steirischen Kilometer liegen die schwierigsten Passagen der ganzen Strecke: die Olsaklamm bei Neudegg, der Neumarkter oder Perchauer Sattel, die Murüberschreitung bei Scheifling, der Alpenhauptkamm am Triebener Tauern (Abb. 1), die Paltenklamm bei Selzthal, die Ennsüberschreitung vor Liezen und der Anstieg zum Pyhrnpass. Von dort führt die Straße, grob vom Verlauf der heutigen A9 nachvollzogen, über das Teichl-, Steyr-, Krems- und Aiterbachtal ins oberösterreichische Alpenvorland nach Wels (Ovilavis), wo sie nach Überquerung der Traun in die Limesstraßen einmündet.[2]
Die Straße ist als via publica, also als „römische Reichsstraße erster Ordnung“, belegt, weil sie die althistorischen Kriterien dafür erfüllt. Erstens sind von ihrem Verlauf Meilensteine (Abb.2)[3] bekannt und zweitens ist sie in antiken Itinerarien verzeichnet: im listenartig angelegten, in 40 mittelalterlichen Abschriften überlieferten sog. Itinerarium Antonini und in der berühmten, in einer Abschrift des 13. Jhs. überlieferten, kartenartig angelegten Tabula Peutingeriana. Im Folgenden werden für die beiden Schriftquellen die Sigel IA und TP verwendet.
Wie eine via publica in der Steiermark Überland aussieht, illustrieren am besten die neuen Grabungsergebnisse im Grazer Feld[4]: Ein mindestens 7 Meter breiter, zweispurig befahrbarer Schotterkörper wird von breiten Straßengräben begleitet. Es wird eine möglichst gerade Streckenführung angestrebt, die aber auch in der Ebene Knicke aufweisen kann, z. B. um ältere Siedlungen wie den Vicus von Kalsdorf anzusteuern. Im schwierigeren Gelände (etwa am Kugelstein in der Badlenge[5] ) wird der Verlauf der Topografie angepasst, die Trasse teils bergseitig in den Hang gegraben und talseitig mit Stützmauern versehen und streckenweise auf Einspurigkeit (3–3,5 m) reduziert. Jähe Anstiege versucht man zu vermeiden, indem durch Verlegung der Trasse an die Talränder schon weiträumig Höhe gewonnen wird. Wo nötig, werden Straßendämme errichtet. Kreuzungen und Einmündungen in querverlaufende Hauptstraßenzüge gestalten sich nicht als einfache Kreuzungspunkte, sondern sind oft um ganze Bergstöcke herum als aufwändige und weiträumige Dreiecke angelegt.[6] Sowohl bei der Einmündung der Norischen Hauptstraße ins obersteirische Murtal von Süden her (Kreuzeck mit Perchauer und/oder Neumarkter Sattel), bei der Einmündung ins Murtal von Norden her (Falkenberg mit Pölshals und/oder Pölstal) als auch bei der Einmündung ins Ennstal von Süden her (Mitterberg mit Paltenklamm und/oder via Lassing) ist von einer solchen weiträumigen Dreieckssituation auszugehen.
Zwischen Scheifling und dem Pölshals sind die via publica „Norische Hauptstraße“ und die via publica „Murtalstraße“, welche nur durch Meilensteine (aus Feldkirchen, Deutschfeistritz, Murau und Stadl) als solche belegt ist und in den antiken Straßenverzeichnissen nicht vorkommt, übrigens ident – den römischen Fuhrleuten wird die moderne wissenschaftliche Definition egal gewesen sein, vor allem auch, weil es für diesen leider meilensteinfundlosen Abschnitt starke Indizien für Römerstraßen auf beiden Murseiten gibt.
Als der wissenschaftlichen communis opinio entsprechende Prämisse für die folgenden Überlegungen gilt, dass beide antiken Schriftquellen dieselbe Straße überliefern, wenn auch aus verschiedenen Zeiten; die Informationen des IA werden üblicherweise in die römische Kaiserzeit des 2./3. Jhs. n. Chr. datiert, die der TP in die Spätantike (4./5. Jh. n. Chr.).[7]
Straßenstationen, Problemfelder, Quellenkritik
Entlang des steirischen Straßenabschnitts überliefern uns die beiden antiken Quellen acht Namen von Straßenstationen. Die Stationen Monate und Sabatinca stammen aus dem älteren IA; Noreia, Ad Ponte, Viscellis, Tartursanis, Surontio und Stiriate aus der detaillierteren, jüngeren TP. Keiner dieser römischen Siedlungsnamen hat sprachliche Spuren in modernen Orts- oder Flurnamen hinterlassen, weshalb seit Beginn der Forschung im Detail durchaus verschiedene, aus dem Abschlagen der antiken Distanzangaben auf möglichst genauen Kartenwerken sich ergebende Lokalisierungsvorschläge oder Gleichsetzungen mit modernen Ortschaften angeboten worden sind. „Man streitet mehr um die Lage der einzelnen Stationen als über den Lauf der Straße“ bemerkte Nathan Kohn bereits 1875.[8] Die großen Städte Virunum und Ovilavis werden in beiden Quellen genannt, sonst stimmen nur Gabromagus (bei Windischgarsten) und Tutatio (Micheldorf), beide in Oberösterreich, in beiden Quellen überein.
Der Verfasser hält die Situation, dass trotz einer reichen Forschungstradition für die Steiermark inklusive Solva neun sichere römische Siedlungsstellen namentlich bekannt, aber nur zwei letztgültig lokalisiert sind, nämlich (Flavia) Solva an der Mur im Leibnitzer Feld und ausgerechnet die Straßenstation Noreia[9] beim Weiler Oman im unteren Olsatal, für nicht mehr zeitgemäß, vor allem nicht angesichts der Tatsache, dass prominente römische Siedlungen wie Kalsdorf, Kugelstein, Rattenberg und Katsch im Murtal, Gleisdorf und Saazkogel im Raabtal oder Hörbing im Laßnitztal[10] wohl für immer namenlos bleiben müssen. Hier Abhilfe schaffen und Ortstafeln um den römischen Namen ergänzen zu können, ist allerdings auch abseits der Zeit- und Geldfrage mit mehreren komplexen Problemfeldern behaftet:
1. Die landschaftsarchäologische Realprobe gelingt nicht immer, weil die kürzeste Idealstrecke bis heute befahrbar und die Römerstraße daher über weite Strecken überprägt ist. Am stärksten sticht das heute bei den Klammsituationen an Olsa und Palten ins Auge, durch die sich Eisenbahn und moderne Straße zwängen. Dazu kommt die Nichtbeurteilbarkeit der im Gegensatz zu heute unregulierten Gewässersituation in den zu querenden Haupt- und in den zu verfolgenden Nebentälern im warmfeuchten Klimaoptimum der römischen Kaiserzeit.
2. Die archäologische Datendichte vor allem im Neumarkter Hochtal, im Murtal und im mittleren Pölstal ist durch die Aktivitäten mehrerer gleichzeitig agierender, aber nicht immer kooperierender Akteure zu einer fast flächendeckenden Informationswolke geworden. Entlang der antiken Lebensader „Norische Hauptstraße“ sind die Römer quasi überall, sodass die althergebrachte Schreibtischmethode, Strecken auf der Karte abzuschlagen und den römischen Ortsnamen beim nächsten Römerstein oder zufällig bekannten Altgrabungsbefund zu setzen[11], nicht mehr aufgeht. Auch gilt zur Identifikation einer Straßenstation heute ein ganzer Kriterienkatalog: Grundbedingung ist ein römischer Siedlungsbefund mit einem direkt von der Straße her befahrbaren geräumigen Hof. Thermen, eine Schmiede und reichlich Wasser sollten vorhanden, ein Parkplatz und Stallungen zumindest interpretierbar sein. Die Fundzusammenstellung sollte Wagenteile, Hipposandalen und Schuhnägel umfassen, das Keramikspektrum einen hohen Anteil an Trinkgefäßen aufweisen und der Münzbefund konzise sein.[12] Das alles gibt auch der vergleichsweise gute archäologische Forschungsstand nicht her, weshalb Lösungsvorschläge hypothetisch bleiben müssen. Gleichzeitig beweist die archäologische Datendichte aber auch, dass es eben nicht nur die offiziellen Stationen des cursus publicus gegeben hat, sondern dass entlang der Straße das Leben und damit die Privatwirtschaft pulsierte.
3. Die antiken Schriftquellen geben zu kurze Distanzen an, weshalb in der Forschung immer schon dehnende Korrekturen vorgeschlagen worden sind. Die aus modernen Routenplanern errechnete kürzestmögliche Idealstrecke vom nördlichen Weichbild Virunums bis zum südlichen Traunufer gegenüber Ovilavis beträgt 218 Kilometer, das sind 147 römische Meilen.[13] Das IA überliefert für diese Strecke allerdings nur 138 Meilen (204 km) mit 5 Zwischenstationen. Der plausibelste Vorschlag, weil das in der ältesten mittelalterlichen IA-Handschrift so steht, lautet, die Strecke zwischen Monate und Sabatinca von 18 auf 28 Meilen zu korrigieren. Die TP hingegen gibt 12 Zwischenstationen auf 145 Meilen (214,5 km) an, beschert aber zugleich zwei eklatante Problemstellen: die Doppelung Noreias und den Ausfall der Distanzangabe zwischen Ad Ponte und Viscellis. Wenn wie üblich in der Annahme eines mittelalterlichen Kopistenfehlers eine der beiden Noreia-Distanzen von 13 Meilen gestrichen wird, kann man für die Distanzfehlstelle 16 Meilen ergänzen (145-13+16=148), um die beiden antiken Quellen einander anzugleichen und auch der modernen Kürzestdistanz möglichst nahezukommen. Beide Quellenkorrekturen betreffen den steirischen Streckenteil!
4. Die antiken Schriftquellen nennen wie gesagt die zwei oberösterreichischen Stationsnamen Gabromagus und Tutatio gleichlautend, allerdings mit einem 2-Meilen-Unterschied: Tutatio liegt im IA auf Meile 20 (TP 22), Gabromagus auf 40 (TP 42) von Ovilavis. Soll/darf man diese Differenz von Norden her in die Steiermark weiterziehen? (siehe Tab. 1)
Neue Ansätze und neue Fragen
Dieses vorausgesetzt und unter Einbeziehung rezenter archäologischer Indizien und neuer GIS-basierter Entfernungsmessungen lassen sich einige neue Hypothesen aufstellen bzw. althergebrachte Lokalisierungsvorschläge untermauern, vor allem wenn man die steirischen Stationen von Norden her zu erschließen versucht und nicht, wie es durch Antikeforscher*innen meist geschehen ist, von Süden, also von Italien her:
1. Zieht man die Zweimeilendifferenz der antiken Quellen in die Steiermark weiter, lägen Sabatinca (IA) und Surontio (TP) am selben Platz südlich des heutigen Ortskerns von Trieben am Eingang des Wolfsgrabens, also am Beginn des schwierigsten Teils der ganzen Strecke, am Anstieg zum Triebener Tauern von Norden her (Höhendifferenz ca. 500 m auf einer Strecke von nur ca. 9 km). Manche, in jüngerer Zeit etwa Gerald Grabherr[14], sind sich des Problems bewusst, lösen es aber dadurch, dass sie die Plus-10-Meilen-Korrektur nicht wie in der Tabelle angezeigt zwischen Sabatinca und Monate durchführen, sondern schon vor Sabatinca, das dann auf Meile 80 von Norden zu liegen käme. Dadurch wird das „Zweimeilenproblem“ allerdings nicht gelöst, sondern auf Tartursanis (TP, Meile 82) übertragen. Die Lokalisierung der steirischen IA-Station Sabatinca stellt also ein Problem dar, weil sie entweder mit (späteren) TP-Stationen lageident ist oder nur jeweils 2 Meilen nördlich davon liegt. Keinesfalls jedoch kann Sabatinca, wie es bis in jüngste Zeit oft eingezeichnet wird[15], auf derselben Strecke südlich von Tartursanis liegen! Überliefern IA und TP im Bereich des Alpenhauptkamms also doch nicht exakt dieselbe Strecke, etwa weil die ältere IA-Route durch Einfluss von Naturgewalten unpassierbar wurde und z. B. auf die andere Talseite verlegt werden musste, wodurch der offizielle Status von Sabatinca verloren ging? Oder kam es, wodurch auch immer, zu einem Stationswechsel (oder auch nur Stationsnamenwechsel) auf derselben Strecke im Zeitraum zwischen der Erstniederschrift der IA und der TP-Informationen?
2. Für die Lage von Tartursanis (TP) ergibt sich, sowohl in Kenntnis des Geländes als auch durch digitales Streckenabschlagen, ein neuer Lokalisierungsvorschlag beim Wirtshaus Bruckenhauser gute zwei km nördlich des Ortskerns von St. Johann am Tauern. Bisher war Tartursanis gerne 2,5 km weiter nördlich im Bereich des Gehöfts vlg. Unterhauser verortet worden. Der Verfasser ist sich der Zirkelschlussgefahr bewusst, wenn man als Indiz Funde der späten 1920er-Jahre[16] aus dem sonst fundleeren oberen Pölstal anführt. Von einer Erfüllung des Kriterienkatalogs ist man ohnehin meilenweit entfernt.
3. Im Ort Unterzeiring, unmittelbar östlich des Schlosses Hanfelden zeigt sich sowohl im Orthofoto von 2013 als auch in einem Bodenradarbefund von 2018 (siehe Abb. 3)[17] ein etwa quadratisches Gebäude von ca. 34 m im Geviert mit Innenhof und Nebengebäuden. Eine Probegrabung im Oktober 2022 durch Paul Bayer konnte die römische Zeitstellung des Hofgebäudes nachweisen, womit zumindest als Arbeitshypothese einer Identifikation von Unterzeiring/Hanfelden mit dem Viscellis der TP, das sonst oft beim Ort Möderbrugg verortet wurde, nichts im Wege steht. Die Grundbedingung eines römerzeitlichen Siedlungsbefundes mit befahrbarem Hof und Nebengebäuden scheint hier jedenfalls gegeben. Man weiß sich mit dieser Verortung von Viscellis zum Glück eines Geistes mit Theodor Mommsen und Walter Brunner[18].
4. Dass die Norische Hauptstraße über den Pölshals beim Schloss Sauerbrunn, wo es römische Befunde aus einer Grabung 2016 gibt[19], das Murtal erreicht, steht außer Frage. Wollte man aber von Norden kommend nach Osten murabwärts, bot sich die Möglichkeit, bereits bei Katzling die Norische Hauptstraße zu verlassen und nördlich am Falkenberg vorbei dem Pölstal folgend das Aichfeld mit der großen Siedlung bei Rattenberg zu erreichen. Das Orthofoto von 2013 – der Verfasser verdankt den Hinweis dem guten Auge der Studentin Magdalena Sulzer – zeigt ein dem Unterzeiringer Befund sehr ähnliches Hofgebäude, das nahe der Katzlinger Abzweigung dieser Zubringerstraße liegt, offenbar an der Stelle, wo die Pöls zu überschreiten war (siehe Abb. 4). Man kann also von einem großräumig angelegten Römerstraßendreieck rund um den Falkenberg ausgehen, gebildet von der Norischen Hauptstraße, der Murtalstraße und einer der Pöls linksseitig folgenden untergeordneten Zubringerstraße.[20]
5. Die IA-Station Monate, deren genaue Verortung nach der Richtigstellung von Walter Schmids nachhaltiger Missinterpretation eines Grabbezirks bei Nußdorf als Poststation[21] wieder in Diskussion ist, liegt gemäß IA-Streckenkorrektur 98 Meilen südlich von Ovilavis, also halbwegs zwischen den TP-Stationen Viscellis und Ad Ponte. Im Gemenge der besonders dichten Fund- und Luftbildbefundhäufung im Murtalabschnitt der Norischen Hauptstraße[22] bietet sich am ehesten eine Verortung im Bereich Obere/Untere Einöd[23] sonnseitig links der Mur an. Zum Zeitpunkt der Niederschrift der TP-Informationen hatte Monate keinen offiziellen Stations-Status mehr. Warum dem so war, darüber lässt sich nur frei spekulieren; z. B. könnte hier ein älterer Murübergang aufgegeben und eine (neue?) Brücke weiter westlich errichtet worden sein, wodurch die via publica bis Lind/Scheifling auf der Sonnseite blieb.
6. Scheifling rechts bzw. Lind links der Mur waren aufgrund der verkehrsgünstigen Lage am Nordfuß des Perchauer Sattels und der richtigen Entfernung von 41 Meilen ab Virunum immer schon die Favoriten für die Verortung der Murbrückenstation Ad Ponte (TP). Südlich der Mur, unmittelbar westlich der heutigen Bundesstraßenkreuzung zeigen die GIS-Orthofotos von 2013 und 2019 auf der letzten unverbauten Wiese mitten in Scheifling nicht nur ein quadratisches Hofgebäude (ca. 34 m im Geviert wie in Unterzeiring), sondern auch ein davon abgesetztes, ca. 16x10 m großes, partiell hypokaustiertes Gebäude mit kleinteiliger Raumstruktur und Apsiden nach Süden und Westen, das eindeutig als römisches Bad anzusprechen ist (siehe Abb. 5), womit ein wichtiges Kriterium für eine Interpretation als Straßenstation erfüllt ist. Man sollte auch in Erwägung ziehen, die Altfunde in Lind am linksseitigen Brückenkopf in den Namen „Ad Ponte“ mit einzubeziehen, also von Lind und Scheifling und nicht von Lind oder Scheifling zu reden!
7. Die Frage, ob die Norische Hauptstraße über den Neumarkter Sattel oder über den Perchauer Sattel verlief, ist in der Forschung unentschieden. Bei den Meilenzählern hat der Perchauer Sattel trotz der um 100 m größeren Seehöhe Vorrang, während sich die archäologische (Fund-)Waage in letzter Zeit eher in Richtung Neumarkter Sattel neigte. Im Sinne eines großräumigen Straßendreiecks um das Kreuzeck ist hier unbedingt die Möglichkeit eines Ausbaus beider Strecken in Erwägung zu ziehen: Von Süden her ist sicherlich der Neumarkter Sattel einfacher zu befahren, von Norden her wird die Perchauer Strecke entlang der heutigen B 317 attraktiver gewesen sein. Knapp südlich von St. Marein bei Neumarkt, markiert durch einen Meilenstein aus der Zeit Konstantins, der die Entfernungsangebe 32 Meilen nördlich von Virunum trägt[24], liegt die südliche Spitze des Straßendreiecks, dessen nördlicher Schenkel durch eine Strecke der Murtalstraße gebildet wird, die sich in der Talebene bei Teufenbach im Orthofoto 2013 und im zugehörigen GIS-Steiermark-Geländemodell als 790 m langes und 6 m breites, schnurgerades Dammstraßenstück zeigt.[25] Welche der beiden Passrouten nun die des IA und welche die der TP ist, ob beide gleichzeitig existierten bzw. sogar gleich beim Erstausbau als Alternativrouten angelegt wurden, oder ob die Route über den Perchauer Sattel die spätere ist, ist beim derzeitigen Forschungsstand nicht zu entscheiden.
Resumée
Für die heutige Obersteiermark war die römische via publica „Norische Hauptstraße“ eine pulsierende Lebensader, gesäumt von dichter öffentlicher und privater Siedlungsinfrastruktur und den zugehörigen Grabbauten. Für die drei Passhöhen nennen die Quellen definitiv keine Stationen; eine Infrastruktur ist dort entweder gar nicht vorhanden (weil die Überschreitung in einem Tag zu schaffen war), einem Passheiligtum inkorporiert oder privatwirtschaftlich organisiert. Während die Überschreitung der Mur zumindest für die TP-Route durch eine Brücke zwischen Scheifling und Lind festgemacht werden kann, ist die genaue Stelle und die Art und Weise der Ennstalquerung irgendwo südlich von Liezen/Stiriate völlig unklar (Straßendamm?). Inneralpin stehen die Meilensteine nicht bei den Stationen, sondern markieren eher Abzweigungen oder Konfluenzen, die sich oft durch die postulierten großzügigen Dreieckslösungen mit ihren lokalen bis kleinregionalen Alternativrouten ergeben. Die ideal kurze, ostalpenüberschreitende Route ist in der Antike mindestens 350 Jahre lang befahren und befahrbar gehalten worden. Die schriftlichen Quellen dazu sind in einem Abstand von 100 bis 200 Jahren zueinander verfasst worden und spiegeln diese Zeittiefe wider. Bei der Übertragung der Informationen ins Gelände ist diese zeitliche Dimension, also die „Objektbiographie“ der Straßenführung, zu berücksichtigen, was die Probleme bei der Suche nach der einen, „richtigen“ Norischen Hauptstraße relativiert. Die hier formulierten Hypothesen kann man sämtlich auch als Fragen formulieren, für deren Beantwortung schließlich einmal archäologische Methoden angewandt werden müssen.
Anmerkungen
* Dieser Text ist aus dem Vortrag des Verfassers beim Wissenschaftlichen Kollegium der HLK am 7. Oktober 2022 hervorgegangen.
[1] Der Verlauf in Kärnten ist seit Sandra Rutter, Die Erfassung des Verlaufs der sog. norischen Hauptstraße in Kärnten mittels archäologischer und naturwissenschaftlicher Prospektionsmethoden (Diss. Graz 2018) im Detail geklärt.
[2] Zum Verlauf in Oberösterreich zuletzt Anna Windischbauer, Die „Norische Hauptstraße“ im Aiterbachtal (OÖ). Ein Beitrag zu Chronologie und Infrastruktur. In: Gabriele Koiner/Manfred Lehner u. a. (Hgg.), Akten des 18. Österreichischen Archäologietages am Institut für Antike der Universität Graz (= Veröffentlichung des Instituts für Antike der Karl-Franzens-Universität Graz 18, Wien 2022), 355–366.
[3] Zu den nur zwei sicheren steirischen Meilensteinen: Gerhard Winkler, Die römischen Meilensteine von Noricum. In: Pro Austria Romana 50/1-2 (2000), 11–21 (siehe auch http://lupa.at/6126); Gerald Grabherr, In summo viae Noricae – Die Scheitelstrecke der norischen Hauptstraße. In: Matthias Pfeil/C. Sebastian Sommer (Hgg.), Römische Vici und Verkehrsinfrastruktur in Raetien und Noricum. Colloquium Bedaium Seebruck 26.–28. März 2015 (= Schriftenreihe des bayerischen Landesamtes für Denkmalpflege 15, München 2016), 203–209 [in Folge: Grabherr, Norische Hauptstraße].
[4] Siehe HLK-Blogbeitrag Bernhard Hebert, Römerstraße und Hochleistungsstrecke. Neues von der Baustelle der Koralmbahn in Werndorf vom 19. 2. 2021 zu Ergebnissen von Gerald Fuchs und Federico Bellitti.
[5] Gerald Fuchs/Ingo Mirsch, Die Vorläufer der S 35 Brucker Schnellstraße. Verkehrswege zwischen Graz und Bruck an der Mur in der Steiermark (= Fundberichte aus Österreich, Materialhefte A, Sonderheft 14, Wien 2011), 13–28.
[6] Siehe HLK-Blogbeitrag Gerald Fuchs u. a., Neues zur römischen Siedlung Katsch im oberen Murtal vom 23. 9. 2022 für eine kleine Dreieckslösung an der Einmündung der Sölkpass- in die Murtalstraße bei Katsch.
[7] Siehe in diesem Sinne die neuen Straßenkartierungen bei Stefan Groh, Ager solvensis (Noricum). Oppidum – municipium – sepulcra – territirium – opes naturales (= Forschungen zur geschichtlichen Landeskunde der Steiermark 92, Graz 2021), 38, Abb. 13 („Kaiserzeit“) und 39, Abb. 14 („tetrarchisch -konstantinische Zeit“) [in Folge: Groh, Ager solvensis].
[8] Nathan Kohn, Die römische Heerstrasse von Virunum nach Ovilaba. In: Sitzungsberichte der Philosophisch-Historischen Classe der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften 80/3 (1875), 381–436.
[9] Walter Schmid, Die römische Poststation Noreia in Einöd. In: Jahreshefte des Österreichischen Archäologischen Instituts 27, Beibl. (1932), 193–222; Franz Glaser, Die Straßenstationen Candalicae und Noreia. In: Rudolfinum (2014), 157–186.
[10] siehe HLK-Blogbeitrag Florian Mauthner/Valentina Vidoz, Mit Siedlungsarchäologie durch die Zeiten – Zu den archäologischen Grabungen in Deutschlandsberg-Hörbing vom 11. 11. 2022.
[11] Vor allem im Standardwerk von Hans Deringer, Die römische Reichsstraße Aquileia – Lauriacum. Ein Beitrag zur Verkehrsgeschichte Österreichs in der Römerzeit, I. Teil. In: Carinthia I 139 (1949), 193–221 und II. Besonderer Teil: Der Verlauf der norischen Hauptstraße. In: Carinthia I 140 (1950), 171–228 exzessiv und dem damaligen Forschungsstand entsprechend auch durchaus methodisch sauber betrieben.
[12] Für Gallien: Cristina Corsi, Stop & go. Men, animals and vehicles at Roman Road Stations in Gaul. In: Stéphanie Raux u. a. (Hgg.), Les modes de transport dans l´Antiquité et au Moyen Âge. Mobiliers d´équipement et d´entretien des véhicules terrestres, fluviaux et maritimes, Actes de Rencontres internationales Instrumentum Arles 2017 (= Monographies Instrumentum 70, Drémil-Lafage 2021), 181–194.
[13] Umrechnungsschlüssel: 1 römische Meile (MP=mille passus, Mehrzahl milia passuum) ergibt sich aus 1000 Doppelschritten von je 5 Fuß (pes = 29,6 cm), misst also 1,48 km.
[14] Grabherr, Norische Hauptstraße 204.
[15] Z. B. in den Planabbildungen bei Grabherr, Norische Hauptstraße und Groh, Ager solvensis.
[16] Walter Schmid. In: Fundberichte aus Österreich 1 (1930), 74.
[17] Hannes Schiel, Archäologisch-geophysikalische Prospektion Unterzeiring, Maßnahmennummer 65603.18.03. In: Fundberichte aus Österreich 57, 2018 (E-Book 2020), D6143–D6171.
[18] Walter Brunner, St. Oswald-Möderbrugg, Band I: Eine Gemeinde und ihre Geschichte (St. Oswald-Möderbrugg 2002), 40f.
[19] Gerald Fuchs/Atila B. Szilasi u. a., Thalheim 2016. Römerstraße, römerzeitliche Siedlung und Wasser. In: Fundberichte aus Österreich 55, 2016 (E-Book 2018), D6949–D6965.
[20] Eva Steigberger/Helmut Vrabec, Vicus oder Villa? Die „norische Hauptstraße“ im oberen Murtal anhand ihrer Fundorte. In: Matthias Pfeil/C. Sebastian Sommer (Hgg.), Römische Vici und Verkehrsinfrastruktur in Raetien und Noricum. Colloquium Bedaium Seebruck 26.–28. März 2015 (= Schriftenreihe des bayerischen Landesamtes für Denkmalpflege 15, München 2016), 186–196, hier: 190.
[21] Christoph Hinker, Der Fall Monate. Entdeckung und Verlust einer römischen Straßenstation in der Steiermark. In: Elisabeth Walde/Gerald Grabherr (Hgg.), Via Claudia Augusta und Römerstraßenforschung im östlichen Alpenraum (= Ikarus 1, Innsbruck 2006), 458–464.
[22] Helmut Vrabec, Das obere Murtal als römische Siedlungslandschaft – eine Bestandsaufnahme. In: Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark 109 (2018), 7–44 [in Folge: Vrabec, Murtal].
[23] Eine Variante, die der Verfasser unter dem Eindruck der Diskussion mit Walter Brunner nach dem Vortrag im Wissenschaftlichen Kollegium der HLK am 7. Oktober nachgeprüft und für gut möglich befunden hat.
[24] Astrid Steinegger, St. Georgen bei Neumarkt. Die Befunde der Kirchengrabung im Kontext der steirischen Mittelalterarchäologie (= Forschungen zur geschichtlichen Landeskunde der Steiermark 88, Graz 2020), 245 f.
[25] Vrabec, Murtal 25, Abb. 4.
Ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Manfred Lehner, geb. 1963 in Leoben, Studium der Klassischen Archäologie und Kunstgeschichte an der Universität Graz, 2010 Habilitation zum Thema Siedlungskontinuität Binnennoricum/Karantanien. Seit 2010 Dozent am Institut für Antike der Universität Graz und seit 2011 Mitglied der HLK. Zahlreiche Grabungstätigkeiten im In- und Ausland.