Unterwegs zur Stadtgeschichte von Liezen – Ein persönlicher Rückblick des Autors
Jörg Schwaiger
Jubiläen nähern sich zuweilen unmerklich, stets jedoch mit großer Verlässlichkeit, um nicht zu sagen: zwangsläufig. Der Erstkontakt des Autors zum fünfundsiebzigjährigen Liezener Stadtjubiläum war seine Promotionsfeier im Jahr 2019, auf der sich besagtes Jubiläum in der Person von Karl Hödl näherte. Der ehemalige Amtsdirektor und ehrenamtliche Stadtarchivar von Liezen war 1979 als, wie er selbst sagt, „Zugereister“ mit seiner Familie in die obersteirische Bezirkshauptstadt gezogen. Die Stadt zog ihn bald schon in ihren Bann. Besonders die Geschichte hatte es ihm angetan und lässt ihn seither nicht mehr los. Zahlreiche Beiträge – das Literatur- und Quellenverzeichnis des besprochenen Bandes listet über fünfundzwanzig davon auf – sind Zeugnisse einer langjährigen Befassung. Es waren dies auch Jahre, in denen Karl Hödl den 1980 geborenen Autor und dessen Bruder als Wohnungsnachbarn kennenlernte und die beiden Brüder auch nicht aus den Augen verlor, als sie in Graz ihr Germanistikstudium absolvierten. Die Promotionsfeier bildete schließlich den Rahmen zur zündenden Idee für dieses Buch, wie Hödl in seinem Vorwort erwähnt: „Als dieser Bruder Jörg, schon als Familienvater, meine Frau und mich 39 Jahre später zu seiner Promotion zum Doktor der Germanistik einlud, war mir klar, er sollte der Autor des Buches zum 75-Jahre-Jubiläum der Stadterhebung seiner ehemaligen Heimatstadt sein.“[1]
Annäherung an eine Heimatstadt
Geboren in Leoben und wohnhaft in Graz, verortet der Autor in seiner Einleitung zunächst den eigenen Standpunkt. Ausgehend von Peter Roseggers Waldheimat spürt er dem eigenen Heimatbegriff nach. Als Journalist lädt er sich auf eine Art Wordrap ein und findet dabei stichwortartige, assoziative Annäherungen: „Heimat ist für mich auch der Grimming, der mich zuerst grüßt, wenn ich von der Autobahn abfahre, der Blick vom Kalvarienberg auf die Stadt und das Ennstal, die Aussicht vom Berggasthof, das unverwechselbare Vanilleeis in der Ausseer Straße ...“[2] Weitere Beispiele lässt er folgen und weckt damit die Neugier seiner Leserschaft darauf, wohin „ein historischer Rundgang durch Liezen" – so der Untertitel des Buches – sie wohl führen mag.
Abseits ausgetretener Pfade
Nähert sich ein Germanist (und Zweitfachhistoriker) einer Stadtgeschichte, so ist ein anderer, vielleicht sogar ungewöhnlicher Zugang zu erwarten. Bereits das Inhaltsverzeichnis bestätigt, dass hier neue Wege beschritten werden sollen. Statt einer chronologischen Gliederung, wie sie für Ortschroniken sonst so charakteristisch ist, finden die Leserinnen und Leser nach der Einleitung zunächst einen Stadtplan mit fünfundfünfzig roten Punkten. „Inhaltsverzeichnis und Rundgang“[3] ist die folgende Doppelseite überschrieben, wo den fünfundfünfzig Punkten Kapitelüberschriften auf zwei Ebenen entsprechen. Die erste Ebene liefert Adressen und Ortsbezeichnungen, die zweite eine Überschrift, die verschiedentlich knapp-informativ oder auch etwas weiter gefasst ist, wie man dies von Zeitungsaufmachern her kennt. Ähnlich verhält es sich bei den Zwischenüberschriften der nachfolgenden Abschnitte. In Summe umfasst der Darstellungsteil etwas mehr als zweihundert Seiten.
Geschichte mit Leidenschaft
Dieses Buch verfolgt das ambitionierte Ziel, das jeder Autor mit seinem Buch verbindet und sich und ihm wünscht: Es soll gelesen werden. Zur Erreichung dieses Zieles wurde rasch klar, dass es neben Informationen auch Emotionen transportieren sollte, und zwar positive Emotionen, nämlich genau jene, die der Stadtarchivar beim Autor ausgelöst hatte: „Die Idee, nicht die Tradition der klassischen Ortschroniken weiterzuschreiben, sondern einen frischeren, modernen Zugang zu wählen, kam mir bei einer ‚echten‘ Wanderung durch Liezen mit Stadtarchivar Karl Hödl. Er erzählte die Geschichte mit Leidenschaft genau dort, wo sie geschrieben wurde.“[4] Als Redakteur einer hochaufgelegten Tageszeitung sagte sich der Autor, dass die Abschnitte seines Buches etwas von spannenden Zeitungsartikeln haben sollten. So ließ er dem jeweiligen ,Aufmacher‘ immer einen kreativen Einstieg ins Thema folgen, signalisiert durch eine rote Initiale. Dieser Einleitungstext führt vielfach Unerwartetes ins Treffen und soll jedenfalls zum Weiterlesen anregen. Die bereits erwähnten Zwischenüberschriften sollen nachfolgend das Ihrige dazu beitragen, als einladende Wegweiser den Lesefluss in Gang zu halten. Zitate lebender oder bereits verstorbener Zeitzeugen betonen den menschlichen Aspekt und sind willkommene Wegbegleiter bei der Erkundung einzelner Sehenswürdigkeiten. Namen von Amtsträgerinnen und Amtsträgern erscheinen zwischendurch in Tabellenform, sorgsam ausgewählte Kennzahlen in Informationskasten. Der allgemeinen Orientierung dient ein verkleinerter Stadtplan am Seitenkopf, der den gleichzeitig thematischen und topographischen Ausgangspunkt des Abschnittes klar verortet. Zusammen ergibt das durchaus beabsichtigt ein Erscheinungsbild, welches an ein hochwertiges Zeitungslayout erinnert.
Sprechen wir über Inhalte
Dem intendierten abwechslungsreichen Rundgang stand unter diesen Voraussetzungen eigentlich nichts mehr im Wege. Auch die Frage, wo dieser Rundgang beginnen sollte, erschien irgendwie aufgelegt, bildete doch das Rathaus bereits zur Stadterhebungsfeier von 1947 den geradezu naturgegebenen Mittelpunkt.[5] Dreizehnmal musste die Blasmusik damals den Holzhackermarsch intonieren, bis alle Trachtengruppen vor dem Bundespräsidenten aufmarschiert waren. Bezeichnende Details wie diese wurden im reichen Fundus der einschlägigen Literatur aufgespürt, um der Geschichte Lebendigkeit und Lokalkolorit zu verleihen. Dass dabei auch die Wissenschaftlichkeit nicht zu kurz kommt, zeigt die Rubrik „Quellen“ am Ende jedes Abschnitts mit den Zitaten der verwendeten Literatur. Der Wissenschaftlichkeit dient außerdem das Literatur- und Quellenverzeichnis im Anhang des Buches.
Doch zurück zum Darstellungsteil: Die fünfundfünfzig Abschnitte verstehen sich als Ankerpunkte, zwischen denen sich ein historisches Panorama entfaltet. Auch innerhalb der Abschnitte gilt: Klar und verständlich vermittelte Sachverhalte machen auch größere Zusammenhänge begreifbar. Die Geschichte wird buchstäblich auf den Punkt gebracht. Auf den selbst gesteckten Rahmen bedacht, wird bewusst selektiv vorgegangen, raumgreifend, niemals flächendeckend. Die Leserschaft erhält Appetithappen, keine schwer verdaulichen Brocken. Zeitsprünge, persönliche Bezüge und assoziative Zusammenhänge führen anhand des klar umrissenen Rahmens nicht auf verwirrende, schwer nachvollziehbare Pfade, sondern fördern gezielt Gegenwartsbezug und persönliche Betroffenheit.
Denkanstöße ergeben sich vielfach da, wo sich Selbsterlebtes mit Historischem verbindet. So hebt der Autor die Tschernobyl-Katastrophe von 1986 mit einem ganz unscheinbaren, doch verstörenden Kindheitserlebnis ins Bewusstsein: „Der damals fünfjährige Verfasser etwa durfte eine Serviette, die im Gastgarten des damaligen Gasthauses Torda am Kreuzhäuslerweg zu Boden gefallen war, nicht mehr aufheben.“[6] Oft sind es kleine Beobachtungen, die dem Erzählstrang Glaubwürdigkeit, Bedeutungstiefe, auch Humor verleihen sollen. Gleichzeitig wird besser bewusst, wieviel selbsterlebte Zeitgeschichte sich seit der Wende zum 21. Jahrhundert bereits angesammelt und wie viel sich verändert hat. Der rote Faden durch die Liezener Stadtgeschichte ist mit Vorbedacht gespannt, so dass er letztlich hält und unterhält. Er verbindet das Rathaus mit vierundfünfzig weiteren Treffpunkten, die gleichzeitig konkret und symbolisch für die Verbundenheit der örtlichen Bevölkerung stehen. Es sind Orte der Begegnung, die Gemeinsamkeiten und Besonderheiten erkennen lassen. Im Vorfeld der Stadterhebung hatte der damalige Bürgermeister die Bedeutung der Ortsgemeinde (und nur angeblichen Marktgemeinde) mit Verweis auf folgende Qualitäten hervorgehoben: Liezen sei Verkehrsmittelpunkt und wirtschaftlich bedeutsam, Sitz von Bezirksbehörden, Wohnort von doppelt so vielen Einwohnern wie noch zehn Jahre zuvor, Industriestandort und wichtiger Arbeitgeber, letztlich auch bemüht, durch neue Einrichtungen „dem Ort auch nach außen hin das Bild einer Bezirksstadt“ zu geben.[7] Eine Argumentation, die offenbar überzeugte und auch diesem Buch eine Reihe von Anknüpfungspunkten liefert.
Der Rundgang hat aber noch mehr zu bieten. Neben Ämtern und Behörden, Niederlassungen des Handels und der Industrie, Wohnsiedlungen und Schulen (die der Autor teils selbst als Kind erlebte) integriert der Weg auch religiöse Orte, eine alte Schmiede, Gaststätten, Tourismuseinrichtungen und Veranstaltungsstätten. Aussichtspunkte vermitteln zwischendurch Überblicke. Treffpunkte im Freien laden zum Verweilen und Sinnieren ein: der Stadtbrunnen, die Route des Faschingsumzugs durch die Ausseer Straße oder des Pilgerwegs auf den Frauenberg, das Wappentier im Kreisverkehr, antike und mittelalterliche Fundorte, die Schillereiche vor dem einstigen Wohnhaus des Autors, beliebte Sportstätten, das verschwundene Schloss Grafenegg, die Röthelbrücke über die Enns. Zwei zugereiste Mäzene der Gründerzeit, Nikolaus Dumba und Hermann von Wißmann, werden im Zusammengang mit einem Baudenkmal in der Ausseer Straße und einem Gedenkstein im 2016 eingemeindeten Ortsteil Weißenbach vorgestellt. Auch die anderen Orte wollen da und dort zu gezielten „Sondierungen“ inspirieren, welche der Darstellung lokalhistorische Tiefe verleihen und in der Zusammenschau ein multidimensionales Bild der Stadtgeschichte ergeben.
Rück- und Ausblick
Das Ziel des Gelesenwerdens wurde erwähnt. Seine Erreichung lässt sich zwar nicht wirklich überprüfen, doch gibt es immerhin Anzeichen, die diesbezüglich sehr zuversichtlich stimmen: Wohl auch dank positiver Berichte in den großen steirischen Medien war die erste Auflage des Werkes innerhalb weniger Tage ausverkauft, zudem haben weitere Gemeinden beim Autor angefragt, ob auch für sie eine solche Ortschronik denkbar wäre. Vielleicht ist es also wirklich gelungen, mit dieser zugegebenermaßen etwas anderen Liezener Stadtgeschichte ein Lesevergnügen zu bieten, das als kurzweilig und informativ empfunden wird und zugleich lokalhistorische Tiefe nicht vermissen lässt. Möglicherweise regt diese Stadtgeschichte von Liezen zudem künftige Autorinnen und Autoren von Ortschroniken an, einen ähnlichen Zugang zur Geschichte zu unternehmen oder über einen solchen zumindest zu reflektieren.
Anmerkungen
[1] Jörg Schwaiger, 75 Jahre Stadterhebung – ein historischer Rundgang durch Liezen (Liezen 2022), 231 Seiten [in Folge: Schwaiger, Liezen], hier 13.
[2] Schwaiger, Liezen 15.
[3] Schwaiger, Liezen 18f.
[4] Schwaiger, Liezen 15.
[5] Schwaiger, Liezen 20–27.
[6] Schwaiger, Liezen 64.
[7] Schwaiger, Liezen 26.
Mag. Dr. Jörg Schwaiger, geboren 1980, wuchs in Liezen auf. Der promovierte Germanist veröffentlichte die Monographie „Die Lebensspuren Ulrichs von Liechtenstein“ (2020), publizierte unter anderem im Jahrbuch des Steiermärkischen Landesarchivs und ist Autor der Steirerkrone-Serie „Steiermark History“. Er war als Pressesprecher in der Landesregierung tätig, arbeitete im Steiermärkischen Landesarchiv und ist seit 2019 Redakteur der Kronen Zeitung in Graz.