Das Gefängnis als Schule des Verbrechens. Anmerkungen zu einem Fall aus der steiermärkischen Kriminalgeschichte
Christian Bachhiesl
Immer wieder liest und hört man in den Medien, dass das Gefängnis eine ‚Schule des Verbrechens‘ sei, dass also Strafgefangene während ihrer Haft nicht gebessert und geläutert würden, sondern vielmehr erst durch den Kontakt mit sozusagen fundierten Kriminellen so richtig in die Kriminalität hineingezogen werden. So pauschal kann das wohl nicht behauptet werden, aber ganz aus der Luft gegriffen ist diese These nicht. Man kommt wegen eines relativ geringfügigen Delikts hinter Gitter und lernt dort Menschen kennen, die das Verbrechen zu ihrem Beruf gemacht haben – und schon rutscht man ab in das früher so genannte Berufsverbrechertum und ist verloren für die staats- und gesetzestreue Gesellschaft. Denn trotz aller Kontrollmaßnahmen und Überwachungsbestrebungen lassen sich der Aufbau und die Pflege von intensiven Kontakten unter Sträflingen nicht unterbinden. Das Gefängnis ist eine Kommunikationsstelle für bereits ‚etablierte‘ und eine Lehrstelle für angehende Kriminelle. Die ‚alten Hasen‘ der Kriminellenszene können hier von Experten zu Experten die neuesten Nachrichten weitervermitteln, und Ersttäter und all jene, die durch ein ungünstiges Geschick in die Kriminalität geschlittert sind, kommen hier in Kontakt mit ‚Profis‘, die ihnen – anders als die ‚bürgerliche‘ Welt außerhalb des Gefängnisses – scheinbar Verständnis und Achtung entgegenbringen und so in den ‚Neulingen‘ ein ideales Reservoir für die Rekrutierung von Nachwuchskriminellen vorfinden. Eine – vom Justizsystem wohl kaum beabsichtigte – Auswirkung des Gefängnisses war und ist es somit, als Drehscheibe für die Kommunikation der Halb- und Unterwelt zu dienen. Wir wollen dies mit einem historischen Fall aus der steiermärkischen Kriminalgeschichte belegen.
Schon Hans Gross (1847–1915), der steirische ‚Vater der Kriminologie‘, hatte gewusst, dass die Kommunikation unter Strafgefangenen „viel verbreiteter, ausgedehnter und gefährlicher (ist), als man gewöhnlich annimmt.“ Am folgenden Zitat Hans Grossʼ lässt sich zeigen, dass die Kriminologen im Gefangenen hauptsächlich einen nichtsnutzigen, über jede Menge Zeit für subversive Planungen verfügenden Unsicherheitsfaktor sahen:
„Man denke sich in die Lage des Verhafteten, der 24 Stunden im Tage für sich hat, Schlafen und Wachen nach Belieben vertheilen kann, nichts Wichtigeres zu denken hat, als ‚seinen Fall‘, der weiß, dass nur seine Klugheit, seine Verantwortung ihm helfen kann und dem nun alles daran liegen muss, sich entweder mit einem mitverhafteten Helfershelfer zu verständigen, um übereinstimmende Verantwortung zu Tage zu bringen, oder aber einen anderen Verhafteten, dessen Befreiung in Kürze bevorsteht, dazu zu veranlassen, dass er auswärts dafür sorgt, damit Alibizeugen beschafft, Spuren beseitigt, Corpora delicti in Sicherheit gebracht werden.“[1]
Betrachtet man das Gefängnisleben aus dieser Sicht, so stellt es sich als ein heftig brodelnder Kessel brandaktueller und die öffentliche Sicherheit gefährdender Informationen dar, die weiterzureichen und zu empfangen Kriminelle aller Art in höchstem Grade begierig sind. Nochmals wollen wir Hans Gross sprechen lassen:
„Wer nur kurze Zeit darauf ein Augenmerk richten will, wird bald wahrnehmen, wie es auch in den besteingerichteten Gefängnissen zugeht. Bei Thüren und Fenstern, bei Tag und Nacht, in der Zelle und beim Spazierengehen werden Sätze, Worte, Zahlen, unarticulierte Laute gerufen, beantwortet und gewiss auch verstanden, denn sonst würde dies nicht so consequent überall und immer fortgesetzt.“[2]
Dass solche Kommunikation unter Gefangenen tatsächlich zu weiteren Verbrechen führen konnte, soll folgender, in den Aktenbeständen des Kriminalmuseums der Universität Graz dokumentierter Fall belegen: Am 6. Dezember 1913 versuchten zwei zirka 20 Jahre alte Männer, Johann Baumgartner und Rudolf Wratschko, sich der Ersparnisse eines bäuerlichen Ehepaares, das im Preggraben, in der Nähe der steirischen Stadt Knittelfeld, wohnhaft war, zu gelangen. Die Täter hatten sich als Handwerksburschen auf Wanderschaft ausgegeben und bei den Bauersleuten am Abend des 5. Dezember um eine Übernachtungsmöglichkeit angefragt. Sie wurden von den 60 und 64 Jahre alten Bauersleuten, Johann und Theresia Säumel, angewiesen, im neben dem Bauernhaus befindlichen Wirtschaftsgebäude zu nächtigen. Am nächsten Morgen bemerkten sie, dass der Bauer und seine Tochter, die wie seine Frau auf den Namen Theresia hörte, abwesend waren, da sie zwei Kälber zu einem Nachbarn brachten. Außer ihnen selbst und der 64-jährigen Bäurin Theresia Säumel war niemand am Hof anwesend; diese Gelegenheit nutzten Baumgartner und Wratschko, um an das Geld der Bauersleute zu kommen. Zwar stand diesem Ansinnen die Bäurin im Wege – aber mehrere kräftige Hiebe, die einer der beiden Täter mit der stumpfen Seite einer Hacke gegen das Haupt der Theresia Säumel ausführte, beseitigten dieses Problem. Die Bäurin sank blutüberströmt zusammen, die Täter durchsuchten unbehelligt das Haus – und fanden nichts in ihren Augen Wertvolles, vor allem kein Geld. Also ergriffen sie ohne Beute die Flucht, bevor der Ehemann und die Tochter des Opfers zurückkamen. Die Bäurin wurde bewusstlos aufgefunden; sie hat ihr Bewusstsein auch nie mehr erlangt. Am 27. Dezember 1913, 21 Tage nach Verübung der Tat, verstarb Theresia Säumel an der ihr von den erfolglosen Räubern zugefügten Kopfverletzung.
Die beiden Täter flüchteten zwar gemeinsam, trennten sich jedoch sodann. Rudolf Wratschko, den offensichtlich ein schlechtes Gewissen plagte, verriet sich aber auf der Flucht in einem Gespräch mit Reisegefährten – am 17. Dezember 1913 wurde er in Haft genommen, am 19. desselben Monats, acht Tage, bevor das Opfer verschied, sein Komplize Johann Baumgartner, der, wie sich im Laufe des gegen die beiden angestrengten Strafverfahrens herausstellte, die tödlichen Hiebe mit der Axt geführt hatte.
Für unser Thema von besonderem Interesse ist nun der im Zuge der Ermittlungen gegen die beiden Raubmörder festgestellte Umstand, dass diese Tat nur verübt werden konnte, weil Johann Baumgartner zuvor im Gefängnis die dazu nötigen Informationen erhalten hatte. Der 1890 geborene Baumgartner, ein gelernter Elektriker, hatte im September und Oktober 1913 mehrere Fahrraddiebstähle begangen. Wegen dieser eher leichten Delikte war er zu sieben Wochen Arrest im Leobener Gefangenenhaus verurteilt worden; aus dieser Haft war Baumgartner am 4. Dezember 1913, also nur zwei Tage vor Begehung des Raubmordes, entlassen worden. Als Baumgartner nun gefragt wurde, warum er auf die Idee verfallen sei, gerade das alte Ehepaar Säumel zu berauben, gab er an, dass ihm ein Haftgenosse in Leoben, ein gewisser Balthasar Hartensteiner, den Hinweis gegeben habe, dass hier Geld zu holen sei. In der Anklageschrift gegen Baumgartner und Wratschko steht dies wie folgt zu lesen:
„Hartensteiner habe ihm [Baumgartner] erzählt, er wisse einen Bauer namens Gruber [so hieß des Ehepaars Säumel Nachbar, auf den die Täter es scheinbar eigentlich abgesehen hatten] im Preggraben, bei dem man leicht 5–6000 fl [Gulden] holen könne. Er, Hartensteiner, habe mit der Tochter dieses Bauern ein Liebesverhältnis gehabt, und wisse, daß der Bauer in einem Häfen, in einem Koffer auf der Höhe, das Geld aufbewahrt habe; das Geld sei leicht zu bekommen, er Hartensteiner könne es aber nicht holen, da er dort bekannt sei.“
Baumgartner gab zu Protokoll, dass er nicht willens sei, Gewalt anzuwenden, um zu Geld zu kommen, doch sein Mithäftling Hartensteiner habe ihn bestärkt, den ins Auge gefassten Raub beziehungsweise Diebstahl zu begehen:
„Auf Baumgartner's Einwurf, daß er das Geld gerne nehmen würde, aber niemanden umbringen wolle, habe Hartensteiner entgegnet, daß dies nicht nötig sei, da die Besitzersleute alt und sonst nur noch deren Tochter im Hause sei; die beste Gelegenheit ergäbe sich zu den Weihnachtsfeiertagen, wenn die Leute in der Kirche sind.“[3]
Der angebliche Anstifter, Balthasar Hartensteiner, gab zwar an, dass diese Aussagen des Raubmörders Baumgartner falsch seien und er das Opfer, Theresia Säumel sen., gar nicht gekannt habe. Aber wie dem auch immer gewesen sein mag, selbst wenn der Täter diese Anstiftung nur erfunden hatte, um sich selbst zu entlasten, so zeigt dieses Beispiel doch, dass das Gefängnis als Vermittlungszentrale für Informationen, die für Kriminelle von Bedeutung waren, diente. Auch eine Ausrede muss glaubwürdig klingen, wenn sie überzeugen soll. Die beiden Täter wurden übrigens im Jahr 1914 verurteilt; der Haupttäter, Johann Baumgartner, der die tödlichen Hiebe geführt hatte, zum Tod durch den Strang, und sein Genosse, der Hilfsarbeiter Rudolf Wratschko zu fünf Jahren schweren Kerkers, verschärft durch einen Fasttag vierteljährlich.[4]
Anmerkungen
[1] Hans Gross, Handbuch für Untersuchungsrichter, Polizeibeamte, Gendarmen u.s.w. (Graz ²1894) [in Folge: Gross, Handbuch], hier 274f.
[2] Gross, Handbuch 275.
[3] Zitate aus der Anklageschrift St 1752/13/8 der Staatsanwaltschaft Leoben, 9. Diese Anklageschrift ist im Grazer Kriminalmuseum unter der Registratur 2594/c2 verzeichnet. Unter der Registratur 2594 finden sich auch noch die Schädeldecke des Opfers Theresia Säumel und die dazugehörige Karteikarte sowie acht Photographien vom Tatort.
[4] Die Angaben über das Urteil stammen aus der Kartei des Hans Gross Kriminalmuseums, Universitätsmuseen der Uni Graz, Karteikarte 2594/15.
Priv.-Doz. MMag. DDr. Christian Bachhiesl, Studien der Rechtswissenschaften, Alten Geschichte und Altertumskunde sowie Geschichte; war von 2009 bis 2022 Kustos und Kurator des Hans Gross Kriminalmuseums und Stellvertretender Leiter der Universitätsmuseen der Universität Graz, seit 2023 Leiter des Museums im Lavanthaus in Wolfsberg (Ktn.), Mitglied der Historischen Landeskommission für Steiermark.
Forschungsschwerpunkte: Wissenschaftsgeschichte, Kriminologiegeschichte, Geschichte des Reisens; Untersuchungszeiträume der Forschungsgegenstände v. a. Antike, 18., 19. und 20. Jahrhundert.