Digitales Echo. Die „Literaturpfade-Doku“ als Online-Archiv und Ort des virtuellen Nachlebens der „Steirischen Literaturpfade des Mittelalters“*
Wernfried Hofmeister, Sebastian Schiller-Stoff
„Die steirischen Literaturpfade führen ihre Gäste zu acht Schauplätzen in der Steiermark, wo einst in Klöstern und Burgen mittelalterliche Texte verfasst oder überliefert wurden. Um diese Literatur zu neuem Leben zu erwecken, werden ihre vielfältigen Themen, Symbole, Ideen und Träume auf malerischen Spazierwegen vor der historischen Kulisse unserer Natur- und Kulturlandschaft erzählt: Hier laden künstlerisch gestaltete ‚Lesezeichen‘ Jung und Alt zu einer ganz persönlichen Begegnung mit der stets neugierigen, keineswegs finsteren Welt des Mittelalters ein.“[1] So lautete 2012 der vieltausendfach gedruckte Werbetext für die Literaturpfade in Admont (zum „Admonter Bartholomäus“), Bruck an der Mur (zur „Paradiesrede“ Hugos von Montfort), Neuberg an der Mürz (über das „Soliloquium“ des Mönchs Andreas Kurzmann), Seckau (mit den „Seckauer Monatsregeln“), Stattegg (rund um die Minnelieder des Rudolf von Stadeck), Unzmarkt-Frauenburg (gewidmet dem „Frauendienst“-Roman Ulrichs von Liechtenstein), Vorau (zur faustähnlichen „Vorauer Novelle“) und Wildon (über die Reimfabel „Die Katze“ Herrands von Wildon). Die sonntagsspaziergangstauglichen Themenwege wurden vom gemeinnützigen Literaturpfadeverein[2] mit Hilfe eines Patenschaftsmodells errichtet, betreut und ‚bespielt‘.[3] Ende 2022 konnten sie planmäßig und wohlbehalten in die Verantwortung bzw. Obhut ihrer Heimatgemeinden übergeben werden.
Dieser Besitzwechsel war für die Projektleitung der Anstoß, Bilanz zu ziehen und sich zu fragen: Welche greifbaren Ergebnisse hat dieses bildungsorientierte Storytelling-Netzwerk in Summe erbracht? Ist es ihm dank seiner 53 wort- und bilderreichen Stationen wie erhofft gelungen, einen zentralen Teil unserer historischen Literaturlandschaft gleichsam wiederauferstehen zu lassen und damit ins kulturelle oder gar wissenschaftliche Gedächtnis neu einzuschreiben? Gleichzeitig schien es für den Fall des künftigen Abbaus einzelner Pfade sinnvoll, außer den einstigen Pfadereignissen auch das ursprüngliche Aussehen sämtlicher Stationen zu dokumentieren, damit zumindest im virtuellen öffentlichen Raum weiterhin eine Befassung mit älterer steirischer Literatur möglich bleibt, dann sogar orts- , zeit- und witterungsunabhängig. Um beides leisten zu können – das Beantworten von Rezeptionsfragen und die digitale Betrachtung der Literatur-Stationen – wurde die soeben online gegangene „ Literaturpfade-Doku“ geschaffen!
Für ihre Umsetzung im Auftrag des Literaturpfadevereins zeichnet als IT-technischer Kooperationspartner seitens der Plattform „Geisteswissenschaftliches Asset Management System“ ( GAMS) am Grazer Zentrum für Informationsmodellierung ( ZIM) Sebastian Stoff-Schiller verantwortlich, technisch assistiert von der jungen Altgermanistin Gerlinde Gangl.[4] Das zugrunde liegende Arbeitsmaterial besteht einesteils aus elektronischen Materialien zu allen bekannt gewordenen öffentlichen Literaturpfade-Ereignissen der letzten zehn Jahre, bezogen auf diverse Aktivitäten, Veranstaltungen, Publikationen und Medienberichte. Zum anderen Teil konnten dokumentarische, großteils 2020 angefertigte Fotos aller Literaturpfade-Objekte verwendet werden sowie deren Konstruktionspläne und die Druckdateien für die Folien. Mit Hilfe dieser Unterlagen sollte – so die genaueren Vorüberlegungen seitens des Vereins – eine schauplatzspezifische Datenvisualisierung erfolgen. Dafür bot sich als topographische Orientierungsbasis die einst eigens fürs Projekt entworfene Steiermarkkarte an. Für schauplatzübergreifende, also das gesamte Projekt betreffende Ereignisse waren diese acht Orte zweckmäßigerweise um jenen Ort zu ergänzen, von dem die gesamte Literaturpfade-Idee ausgegangen war und wo es daher nicht zufällig von 2013 bis 2022 ein eigenes Literaturpfade-Objekt gab: Dafür bot sich der Standort der Karl-Franzens-Universität Graz an. Dort befand sich rechts vom Hauptgebäude die Meta-Station der „Steirischen Literaturpfade des Mittelalters“. Mit ihren Informationen zum gesamten Projekt warb sie auf dem Unicampus in bester Lage um Aufmerksamkeit für das ‚Fach-Outing‘ der Grazer Germanistischen Mediävistik und stattete der Alma Mater den ihr gebührenden Dank für vertrauensvolle Förderungen ab.
Ehe nun aus der „Literaturpfade-Doku“ ein paar Rezeptionszeugnisse besonders hervorgehoben werden, sei kurz erläutert, wie die Technik hinter diesem digitalen Archiv aussieht. Wie bereits zuvor erwähnt, wurde die „Literaturpfade-Doku“ am Geisteswissenschaftlichen Asset Management System (GAMS) umgesetzt, und zwar als digitale Edition. Das GAMS erlaubt als OAIS konformes digitales Repositorium das Verwalten und die langzeitstabile Ablage von geisteswissenschaftlichen Forschungsdaten gemäß den 'FAIR-Prinzipien' (für eine qualitätsvolle digitale Datenhaltung). Jeder einzelne Literaturpfad des Dokumentationsprojekts wurde dabei als eigenes digitales Objekt am GAMS angelegt und begleitende Materialien (wie zum Beispiel Bilder und PDF-Texte) dem Objekt als Datenströme zugeordnet. Wird nun via Webbrowser eine einzelne Seite des Projekts aufgerufen, betrachtet man genau genommen nicht bloß eine browser-verständliche Visualisierung eines Literaturpfades, sondern eine (technisch) nachvollziehbar abgeleitete Version des eigentlich archivierten digitalen Objektes (bzw. dessen Forschungs- und Metadaten). Nach diesem Prinzip erlaubt das GAMS als digitale Infrastruktur die Nachnutzung elaborierter Arbeitsabläufe der Digitalen Geisteswissenschaften für Forschungsprojekte unterschiedlichster Hintergründe und sichert altbekannte „analoge“ Qualitäten wie Zitierbarkeit, dauerhafte Verfügbarkeit oder Zuverlässigkeit (der Welt der Bücher) im Zeitalter der fortschreitenden Digitalisierung ab.
Da die Literaturpfade ein offenes kostenfreies Freizeitangebot darstellen, liegen zur Frequenz ihrer Begehung und damit zur Vor-Ort-Rezeption ihrer Botschaften keine genauen Daten vor. Dass die Pfade nie ganz verwaist und unbeachtet waren, zumal stets an Ortsmittelpunkten angesiedelt, bekam die Projektleitung aus erster Hand u. a. bei ihren zahlreichen Kontroll‑, Reinigungs‑ und Neufoliierungsrundgängen bestätigt. Nicht zu vergessen die vielen Schulklassen, die schon ab 2012 mit ‚ihrem‘ Literaturpfad befasst worden sind, aber auch die Erlebnisführungen z. B. in Bruck an der Mur, Neuberg an der Mürz, Seckau, Unzmarkt-Frauenburg und Vorau. Solche und andere Aktivitäten haben sich (soweit intern bekannt geworden) in Form von Veranstaltungs- und Neuigkeitsmeldungen auf der Literaturpfade-Homepage niedergeschlagen. Die darauf gefiltert zugreifende und um Weiteres ergänzte „Literaturpfade-Doku“ verzeichnet in Summe mehr als 150 (oft schulbezogene) Veranstaltungen, über 100 Medienmeldungen und rund 25 fachnahe oder wissenschaftliche Publikationen, wobei ein paar Veröffentlichungen noch im Druck sind und daher erst später in die „Literaturpfade-Doku“ eingepflegt werden können.
Um den geschätzten Blog-Leser·innen Lust aufs Eintauchen in dieses etwas andere Archiv zu machen, seien nun ein paar ganz besondere Rezeptions-Ereignisse kaleidoskopartig herausgegriffen: Als Vorbote der Literaturpfade fungierte eine von Eberhard Kummer 2011 aufgenommene, vom Projektleiter im Stift Rein produzierte CD mit der erstmaligen Einspielung von zehn Minneliedern Ulrichs von Liechtenstein. In der weithin ausgestrahlten ORF TV-Reihe „Klingendes Österreich“ unter dem Titel „Im Ritterland“ war im Jahr 2012 aus dieser CD das Lied „ In dem walde süeze dœne“ zu hören und eine der frisch errichteten Unzmarkter Literaturpfadestationen zu sehen. Als beinahe literaturpfadeprogrammatische Erläuterung durch den legendären Moderator Sepp Forcher hört man: „Des is wos Schen's. Des is ein Literaturpfad des Mittelalters. Do gibt's in der Steiermark ollwei mehr und mehr davon. Do kau ma vül lerna über die domolige Zeit.“
Von Anfang an begleitete der schulorientierte „Arbeitskoffer zu den steirischen Literaturpfaden des Mittelalters“ sein von ihm so genanntes Mutterprojekt. Aus seinen rekordverdächtigen drei (!) Laufzeiten (2012–2020) innerhalb der hoch kompetitiven Sparkling Science-Schiene ging u. a. das „ Grazer didaktische Textportal zur Literatur des Mittelalters“ als nachhaltige Online-Unterrichtsplattform hervor sowie in enger Kooperation mit dem Literaturpfadeverein die „Dichterleben“-Ausstellung (2016–18 im Steiermärkischen Landesarchiv), deren fünf Module anschließend in die Nähe ihrer Pfade und Autorenheimaten migriert wurden, wo sie noch heute nachwirken. Eine andere Art von Rezeptions-Boost war schon 2015 von der Literaturpfade-Anthologie „Literarische Verortungen“ ausgegangen: Zu den zahlreichen bekannten Autor·innen, die unter der Ägide des Literaturpfadevereins zu jedem der Pfade unentgeltlich neue Texte beisteuerten, gehörten u. a. Gerhard Roth und Alfred Kolleritsch – was diesen Band zu einem singulären Brückenbauer machte, denn er ist mutmaßlich der einzige, in dem sich diese beiden antagonistischen Großgestirne des steirischen und internationalen Literaturhimmels wissentlich vereinen ließen. Wer erfahren möchte, was man augenzwinkernd unter einem ‚Fakesimile‘ (sic!) verstehen könnte, wird in der „Literaturpfade-Doku“ ebenfalls fündig: Da gibt's einmal den von Schüler·innen in einem der Schulprojekte hergestellten „Arbeitskoffer“-Sammelband in mittelalterlicher Anmutung (später integriert in die „Dichterleben“-Ausstellung, heute in Neuberg an der Mürz) und den von Johann Uitz kalligraphisch mit seinen variierenden Schreiberhänden durchgestalteten, sogar blattvergoldeten und dem Literaturpfadeverein verehrten ‚Fakesimile‘-Prachtband. Beide großformatigen Bücher geben in fast täuschend authentischer Schrift und bereichert durch fantasievolle Miniaturen mittelalterliche Texte aus dem Umfeld der Literaturpfade wieder; via „Literaturpfade-Doku“ können sie in Gestalt hochwertiger Digitalisate frei Haus bestaunt werden.
Den Rahmen dieses kleinen Best-of beschließe passenderweise der „Literaturpfad im digitalen Raum“. Er wurde von Studierenden an der FH Joanneum (in fachlicher und finanzieller Kooperation mit der Literaturpfadeleitung und gefördert vom Grazer Museum für Geschichte) entwickelt, um im Rahmen der großen „Steiermark-Schau 2021“ präsentiert zu werden. Technisch gestaltet als eine Android-App, remodelliert der digitale Literaturpfad auf jugendlich frische Weise den Unzmarkter „Frauendienst“-Pfad Ulrichs von Liechtenstein. Er hält jedoch auch für alle übrigen sieben Literaturpfade die Fahne hoch. – Das beschließt recht passend diese Ährenlese aus der „Literaturpfade-Doku“, denn gemäß der Anzahl an Rezeptionszeugnissen hat darin der Liechtensteiner, der weithin bekannte Bannerträger der altsteirischen Literaturszene, klar gewonnen, aber ohne dabei einen der übrigen Pfade zum Verlierer gemacht zu haben.
Was sich damit im Rückblick bestätigt, ist die einstige Erwartung, dass die wahre Stärke aller Pfade nicht so sehr in ihren einzelnen, mehr oder minder spektakulären Texten und Themen liegt, sondern in deren regionaler Vernetzung über eine gesamte Literaturlandschaft hinweg. Erst dieser Verbund hat für die gewünschte Sichtbarkeit gesorgt. Um die Plausibilität dieser Schlussfolgerung zu erhärten und damit zugleich eine finale Antwort auf die eingangs gestellte Frage nach dem Rezeptionserfolg des Literaturpfadeprojekts zu geben, sei am Ende noch ein außerordentliches, für die „Doku“ gar nicht direkt erfassbares ‚Rezeptionszeugnis‘ genannt: Im aktuellen Sommersemester nimmt die US-amerikanische germanistische Mediävistin Alexandra Sterling-Hellenbrand eine Fulbright-Gastprofessur an der Uni Graz eigens dafür wahr, hier vor Ort die Rezeption der steirischen Literaturpfade-Initiative zu untersuchen und diese damit prominent in ihre global angelegten Studien zur literarischen Memorialkultur mit einzubeziehen. Für die „Literaturpfade-Doku“, deren Fertigstellung nicht zufällig in die Zeit ihres Gastaufenthalts fällt, hatte Kollegin Sterling-Hellenbrand zu einer der maßgeblichen Test-Nutzer·innen gezählt. Sieben der acht Pfade hat sie mittlerweile persönlich besucht. Noch vor ihrer Abreise zu Semesterende möchte sie auch den letzten (in Seckau) begehen, und laut eigenen Angaben freut sie sich schon darauf.
Quellen
Broschüre des Literaturpfadeprojekts (2012): https://static.uni-graz.at/fileadmin/Literaturpfade/Projekt/broschuere.pdf
Dichterleben-Ausstellung: #dichterleben: Mittelalterliche Tweets aus der Steiermark (online besuchbar unter http://gams.uni-graz.at/lima/dichterleben360/)
Grazer Asset Management System (GAMS): https://gams.uni-graz.at
Grazer didaktisches Textportal zur Literatur des Mittelalters: https://gams.uni-graz.at/context:lima
Literarische Verortungen. Neue Texte zu den Schauplätzen mittelalterlicher Literatur in der Steiermark und in Slowenien. Hrsg. v. Wernfried Hofmeister. Graz: edition keiper 2015. (Online lesbar unter: https://austria-forum.org/web-books/literaturpfade00de2015iicm)
Literaturpfade-Doku: https://gams.uni-graz.at/context:lipfa
Projekthomepage der Steirischen Literaturpfade des Mittelalters: https://literaturpfade.uni-graz.at
Projektvideo zu den Literaturpfaden (2012): https://www.youtube.com/watch?v=SZGB81flafw
Anmerkungen
* Der rahmende Projektbericht stammt von Wernfried Hofmeister, die technischen Informationen zur Projekt-Architektur von Sebastian Schiller-Stoff.
[1] Zu finden ist dieser Text u. a. in der bookletartigen Projekt-Broschüre, abrufbar unter https://static.uni-graz.at/fileadmin/Literaturpfade/Projekt/broschuere.pdf. Für ein Kurzvideo 2012 gesprochen (von Doris Rudloff-Garreis), kann man ihn auch nachhören: https://www.youtube.com/watch?v=SZGB81flafw.
[2] Die ehrenamtliche Leitung hatte der Pfadegründer Wernfried Hofmeister in enger Zusammenarbeit mit Andrea Hofmeister und dem Literaturpfade-Team inne, darunter außer den verschiedenen Schauplatzkoordinator·innen auch die ehemaligen Homepage-Betreuerinnen Verena Fink und Martina Panse sowie als finanztechnisch unterstützende Kooperatorin Magdalena Laura Halb.
[3] Unter den forschungsorientierten Organisationen, die das Literaturpfadevorhaben früh ideell unterstützten, befand sich auch die Historische Landeskommission für Steiermark (damals vertreten durch ihren Geschäftsführenden Sekretär Alfred Ableitinger).
[4] Die Projektpräsentation fand am 21. Juni 2023 an der Uni Graz statt.
Ao. Univ.-Prof. i. R. Dr. Wernfried Hofmeister, Studium der Germanistik und Anglistik in Graz, Promotion 1981, nach Habilitation 1995 Ao. Univ.-Prof. für Deutsche Sprache und Ältere Deutsche Literatur am Institut für Germanistik der Universität Graz, seit 2019 Geschäftsführender Sekretär der Historischen Landeskommission für Steiermark.
Forschungsschwerpunkte: Editionswissenschaft, historische Metaphern- und Phraseologieforschung, spätmittelalterliche Dichtung, regionale Literaturforschung und ihre mediale Vermittlung.
Sebastian Schiller-Stoff BA BA MA MA MA, Studien der Kunstgeschichte, Geschichte und Digitalen Geisteswissenschaften an der Universität Graz, (Full-Stack-)Softwareentwickler am Zentrum für Informationsmodellierung (ZIM) in Graz, von 2018 bis 2022 wissenschaftlicher Mitarbeiter und Webentwickler für das Cantus Network Projekt NAMPI („Nuns and Monks Prosopographical Interfaces“), DERLA („Digitale Erinnerungslandschaft“) und das Horizon2020-Projekt ReInHerit (Redefining the Future of Cultural Heritage).
Forschungsschwerpunkte: Digitale Langzeitarchivierung, Softwarequalität, Softwarearchitektur, Softwaredesign, Research Software Engineering und Digitale Edition(en).