Neue Impulse für das Archiv der Universität Graz
Christine Rigler
Das zentrale Archiv der Universität Graz steht seit November 2021 unter neuer Leitung. Die Stelle war infolge der Pensionierung Alois Kernbauers vakant geworden und mit der Ausschreibung verfolgte das zuständige Vizerektorat die Vorstellung einer neuen Ausrichtung. Das Universitätsarchiv war lange Zeit als Forschungsstelle in enger Verbundenheit mit dem Institut für Geschichte geführt worden, was zu einer beeindruckenden Menge und Vielfalt an Publikationen und Editionen zur eigenen Geschichte der Universität geführt hatte.[1] Der gesellschaftliche Wandel stellt aber auch die Archive vor neue Herausforderungen. Gewünscht war nun sehr dezidiert, die „digitale Transformation”, zu der sich die Universität Graz wie die meisten anderen Universitäten strategisch positioniert,[2] im Universitätsarchiv zügig voranzutreiben; zudem sollte der Servicecharakter des Archivs stärker betont und besser sichtbar gemacht werden.
Die Reorganisation begann mit einer baulichen Sanierung der Räume im Tiefparterre des Universitätshauptgebäudes, in denen das Archiv untergebracht ist. Im ersten Schritt wurden die Büros und Benutzerräume rundum erneuert und teilweise neu möbliert. Besondere historische Schaustücke wie die Originalmöbel aus der Eröffnungszeit der Universitätsgebäude haben nach wie vor ihren Platz. Sie werden verwendet und verleihen den Räumen ihre besondere Aura. Die neue Raumaufteilung erlaubte uns auch die Einrichtung eines Manipulationsraumes, in dem Archivalien gereinigt und verpackt werden können. Die Scan-Arbeitsplätze konnten ebenfalls räumlich zusammengelegt werden. Der größere der beiden Lesesäle wird auch für Veranstaltungen genützt und hat sich als Location bei diversen „Lange Nächten” bereits bewährt.
Rasch umsetzbar war auch die Neugestaltung unseres Webauftrittes, der für mehr Transparenz sorgen und vor allem für die Benützer∙innen Erleichterungen bringen. Bei den universitätsgeschichtlichen Inhalten erfolgte eine Abstimmung mit einem Webprojekt zur Neuaufbereitung der Universitätsgeschichte, konzipiert von einer Historikergruppe um Gerald Lamprecht im Auftrag des Rektorats. An diesem Projekt beteiligte sich das Archiv mit Recherchen und der Bereitstellung von Unterlagen. Die Darstellung der Universitätsgeschichte ging mit dem Relaunch des gesamtuniversitären Webauftritts der Universität Anfang 2023 online.
Die Depotsituation erfährt gerade dieser Tage eine Aufwertung: Die Universität hat dem Erwerb einer neuen Anlage zur Klimatisierung der wichtigsten Depots zugestimmt. Der Umbau wird spätestens Ende Dezember 2023 abgeschlossen sein. Das Prinzip der präventiven Konservierung verfolgen wir auch mit der Umstellung des Gesamtbestandes auf säurefreies Verpackungsmaterial (Archivkartons) – ein kostenintensives Vorhaben, das zum größten Teil noch vor uns liegt.
Im Zuge der Umbauarbeiten wurde auch der Buch- und Zeitschriftenbestand des Archivs einer Neubewertung unterzogen und redimensioniert. Von Druckwerken, die nicht in engem Bezug zur Universität stehen oder für diese von historischer Bedeutung sind und von denen wir wissen, dass sie an geeigneteren Orten oder digital verfügbar sind, haben wir uns getrennt und auf diese Weise Stellfläche gewonnen.[3]
Schwerpunkt Digitale Archivierung
Die Einrichtung des digitalen Archivs zur Erhaltung genuin digitaler Unterlagen ist ein längerfristiges Projekt. An der Universität Graz werden Verwaltungsprozesse seit der Einführung des Campusservicemanagementsystems Uni Graz Online im Studienjahr 2005/2006 zunehmend in den digitalen Bereich verlegt. Schriftgut aus der Verwaltung begegnet uns nun überwiegend elektronisch. Das universitäre Leben spiegelt sich in E-Mail-Accounts, in Social-Media und auf Internetplattformen. Auch persönliche Sammlungen von Arbeitsmaterialien und Korrespondenz (Vor-/Nachlässe) des heute forschenden und lehrenden Universitätspersonals sind überwiegend auf Computern entstanden, also „born digital”. An der Universität Graz laufen außerdem verschiedene Softwaresysteme nebeneinander, die teilweise für bestimmte Anwendungen innerhalb einer Abteilung in Eigenregie, (also nicht von der zentralen Universitäts-IT) eingerichtet wurden. Die Beschaffenheit und Menge der archivierbaren Unterlagen haben sich damit verändert. Diese Umstellungen haben Auswirkungen auf alle Bereiche des Archivs: von der Übernahme und Bewertung über die Erschließung und Benützung bis zur Konservierung. Damit digitale Ressourcen ebenso authentisch bewahrt bleiben wie das traditionelle Schriftgut, müssen für alle Segmente der Archivarbeit neue Workflows eingerichtet werden. „Langfristige Verfügbarkeit” bedeutet ununterbrochene Aktivität im Rahmen technischer Kontroll- und Umwandlungsprozesse solange die Daten am Leben erhalten werden sollen.[4] Das klingt etwas weniger erschreckend, wenn man sich vor Augen hält, dass auch zur Konservierung von materiellem Archivgut großer organisatorischer und technischer Aufwand erforderlich ist. Chemisch bedingter Verfall im Papier, Mikroorganismen oder Tierfraß sind ständige Bedrohungen, denen ebenfalls permanent durch Praktiken des schützenden Umgangs entgegengewirkt werden muss.
Nicht zu übersehen ist übrigens der Zeitfaktor: Um Datenverlust zu vermeiden, müssen wir innerhalb bestimmter Fristen handeln. In der „ Global List of Digitally Endandered Species” der Digital Preservation Coalition wird der Gefährdungsgrad von digitalem Content oder digitalen Quellen in fünf Kategorien eingeteilt: Lower Risk – Vulnerable – Endangered – Critically Endangered – Practically Extinct. Die empfohlenen Zeiträume zur Sicherung dieser Daten variieren zwischen einem und maximal fünf Jahren ab dem Zeitpunkt der Entstehung. In der Kategorie „Critically Endangered” ist mit dem Eintrag „Correspondence and Records of Resarch” auch der universitäre Bereich betroffen. Gemeint sind die Belege informeller Kommunikation über E-Mail und Social Media oder Forschungsunterlagen auf persönlichen Laufwerken oder in Clouds. Maßnahmen zur Sicherung dieser Materialien sollten innerhalb von drei Jahren in Angriff genommen werden.[5] Wenngleich in diesem Verzeichnis vorwiegend die prekären Fälle gelistet sind und die EDV-Systeme an Universitäten vergleichsweise gut abgesichert sind, sollte mit der Archivierung digitaler Unterlagen nicht noch länger gewartet werden. Die ältesten Daten, mit denen wir es tun haben, sind nämlich vor bald 20 Jahren entstanden. Über Strategien zur Erhaltung des eigenen digitalen Erbes wird an den Universitäten seit wesentlich kürzerer Zeit nachgedacht. Treibend sind die Universitätsarchive, die das Problem akut zu lösen haben. Ihnen fällt die undankbare Aufgabe zu, Szenarien einer drohenden Datenfinsternis in der Zukunft aufzuzeigen, um auf die Dringlichkeit der digitalen Archivierung hinzuweisen. Ein automatisiertes Einverleiben aller archivwürdigen Unterlagen aus den unterschiedlichen Systemen in den Prozess der Langzeitarchivierung ist das Ziel. Mit der für 2024 geplanten Implementierung der notwendigen technischen Infrastruktur rückt dieses Ziel an der Universität Graz in greifbare Nähe.
Umgang mit neuartigen Quellen: Verlust und Gewinn
Die digitale Transformation greift in die Überlieferung ein, indem sie Quellen verändert und neue generiert. So wurden Printprodukte im Universitätsalltag teilweise durch digitale Formate ersetzt – das beste Beispiel dafür sind die Vorlesungsverzeichnisse, die seit 2006 nicht mehr gedruckt vorliegen. Die Vorlesungsverzeichnisse stellen eine wichtige Grundlage für die Rekonstruktion des universitären Betriebs dar. Sie dokumentierten Semester für Semester nicht nur die angebotenen Lehrveranstaltungen, sondern auch Personalstände und Studierendenstatistiken; sie bildeten die Strukturen der Fakultäten ab und informierten über die Einteilung des Studienjahres. All diese Informationen werden heute dezentral in anderer Aufbereitung auf verschiedene Informationssysteme verteilt. Der Charakter der semesterweisen Chronik auf einen Griff ist damit nicht mehr gegeben. Für eine annähernd vergleichbare Überlieferung müssten nun periodische Datenbankabfragen aktiv veranlasst und gesichert werden. Es ist nicht garantiert, dass alle in den früheren Vorlesungsverzeichnissen enthaltenen Informationen erhalten bleiben werden. Dafür kommen andere Daten hinzu, die zuvor nicht berücksichtigt worden waren.
Ein Beispiel für die Entstehung einer neuen Quelle, die zugleich einen Informationsgewinn bringt, ist die E-Mail. Sie ist eine computerbasierte Form des schriftlichen Austausches, die wesentliche Teile der früheren telefonischen und brieflichen Kommunikation abdeckt. Weder der Brief noch das Telefon sind deswegen ausgestorben – ihre Einsatzgebiete haben sich jedoch verändert.
Das Auffälligste an der E-Mail ist die schnelle Übertragung, die den Phasenverzug[6] so verkürzt, dass der Eindruck von Synchronizität entstehen kann. Weitere technische Möglichkeiten wie das Adressieren mehrerer Personen gleichzeitig, das Mitsenden und Verlinken von Materialien und die Nachvollziehbarkeit von Kommunikationsverläufen durch Forward- und Replyfunktionen sind besonders in Arbeitsprozessen relevant. Die E-Mail wird daher bevorzugt für informelle Kommunikationsvorgänge im beruflichen Kontext, also auch in Wissenschaft und Forschung verwendet.[7] Im Hinblick auf die Quellentauglichkeit ist besonders hervorzuheben, dass ein hoher Anteil auch der ausgehenden Nachrichten einer Person innerhalb der Mailbox erhalten bleiben wird. Insgesamt ist eine deutlich höhere Anzahl von Nachrichten zu verzeichnen. Zur Veranschaulichung verweise ich auf ein Zahlenbeispiel aus dem Bestand der Stanford University Library: Im Nachlass des amerikanischen Lyrikers Robert Creeley (1926–2005) stehen 7.000 Briefe einem E-Mail-Bestand von 163.689 Nachrichten gegenüber. Die Anzahl reduziert sich nach Entdoppelung zwar deutlich auf 49.644, stellt aber immer noch ein Vielfaches der Briefzahl dar.[8] Bei derartigen Mengen können weder die Archivar∙innen noch die Interessent∙innen, die den Bestand durchsuchen, Mail für Mail einzeln sichten. Der Umgang mit Mailboxen verläuft daher zwangsläufig automatisiert, was bedeutet, dass die Kenntnis des Bestands sowohl archiv- als auch benutzerseitig durch EDV-Prozesse mitgeformt wird.
Im Zeitalter der Digitalität müssen bestimmte Praktiken des Archivwesens auch rechtlich neu verhandelt werden. Während ein Konvolut von Briefen ohne große Hürden in ein Archiv gelangen darf, muss die Übernahme von E-Mail Accounts, die nichts wesentlich anderes sind als Konvolute schriftlicher Nachrichten (angereichert durch angeheftete Unterlagen bzw. auch audiovisuelle Beigaben) juristisch begleitet werden. Der Hauptgrund dafür ist, dass E-Mail-Accounts an Universitäten (und an anderen öffentlichen Einrichtungen) auch für private Zwecke genützt werden dürfen. Die Universität darf nicht uneingeschränkt darauf zugreifen. Aber auch bei einer freiwilligen Überlassung der E-Mails ist der Schutz personenbezogener Daten Dritter zu beachten. Ungeachtet der Tatsache, dass im Archiv die gesetzlichen Sperrfristen einzuhalten sind, und obwohl auch in brieflicher Korrespondenz ähnliche Konstellationen vorkommen können, sind die Bedenken der Datenschutzexpert∙innen beim digitalen Bestand meist größer. Zum Präzedenzfall wird am Universitätsarchiv der E-Mail-Account der herausragenden Theologin und Frauenforscherin Irmtraud Fischer werden, den wir mit ihrem Vorlass übernehmen dürfen. Wir hoffen aber, dass bald weitere folgen werden. Wenn wir uns diese reichhaltigen Belege des intellektuellen Lebens entgehen lassen müssten, wäre die Zukunft wirklich düster.
Anmerkungen
[1] In der Reihe „Publikationen aus dem Archiv der Universität Graz” sind von 1973 bis 2021 insgesamt 52 Bände erschienen [URL: https://archiv.uni-graz.at/de/ueber-uns/forschung/publikationen/schriftenreihe-paug/ (21. 11. 2023).
[2] Vgl. Universität Graz, „Digitaler Wandel” [URL: https://strategische-entwicklung.uni-graz.at/de/strategie-2024/digitaler-wandel/ (21. 11. 2023).
[3] An dieser Stelle möchte ich die Mitarbeiter∙innen namentlich nennen: Sabine Krammer im Sekretariat, Archivarin Petra Greeff und Archivar Andreas Golob sind dem Universitätsarchiv seit vielen Jahren verbunden. Ohne ihre große fachliche Kompetenz, ihre genaue Kenntnis des Bestands und ihr Engagement wären die Umstrukturierungen in den vergangenen zwei Jahren nicht umsetzbar gewesen.
[4] Der maßgebliche Standard für die digitale Langzeitarchivierung ist immer noch das 2002 erstmals publizierte „Reference Model for an Open Archival Information System” (OAIS). 2013 erschien eine deutsche Übersetzung der aktualisierten Version in den Materialien des nestor-Kompetenznetzwerks Langzeitarchivierung und Langzeitverfügbarkeit Digitaler Ressourcen für Deutschland [URL: https://d-nb.info/104761314X/34 (21. 11. 2023).
[5] Vgl. Digital Preservation Coalition: The Bit List 2023. The Global List of Digitally Endangered Species. Fourth Edition (revised November 2023), 42 f. [URL: https://www.dpconline.org/digipres/champion-digital-preservation/bit-list (21. 11. 2023).
[6] Vgl. Reinhard M. G. Nickisch, Brief (Stuttgart 1991), 11.
[7] Vgl. Kathrin Meder, E-Mail-Kommunikation. Zwischen Individualität und Konventionen. Eine Untersuchung des Nutzerverhaltens im Alltag (Saarbrücken 2006), 144.
[8] Sudheendra Hangal u. a., Historical Research Using Email Archives. In: CHI EA '15: Proceedings of the 33rd Annual ACM Conference Extended Abstracts on Human Factors in Computing Systems (April 2015), 737 [URL: https://doi.org/10.1145/2702613.2702976 (21. 11. 2023).
Mag. Dr. phil. Christine Rigler, Germanistin und Archivarin. Seit November 2021 Leiterin des Archivs der Universität Graz.
Davor war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität für Weiterbildung Krems in folgenden Funktionen tätig: Leiterin des Archivs der Zeitgenossen – Sammlung künstlerischer Vor- und Nachlässe (2010–2021), Leiterin des Departments für Kunst- und Kulturwissenschaften (2018–2021), Vizedekanin der Fakultät für Bildung Kunst und Architektur (2012–2021)