„Zeichen in Kirche und Welt“ – Anmerkungen zu zwei steirischen Seligsprechungsprozessen
Peter Wiesflecker
Im Frühjahr 2022 wurden vom steirischen Diözesanbischof Wilhelm Krautwaschl die Seligsprechungsprozesse für die Gründerin der sog. Vorauer Marienschwestern, Barbara Sicharter (1829–1905) und eine Novizin dieser Ordensgemeinschaft, Sr. Maria Krückl (1918–1945), die in den letzten Kriegstagen des Zweiten Weltkriegs gewaltsam zu Tode gekommen war, eröffnet, nachdem die österreichische Bischofskonferenz ihre Zustimmung zur Einleitung der Seligsprechungsprozesse gegeben hatte. Die Eröffnung der Verfahren fand am 4. Mai 2022 im Rahmen eines bischöflichen Festgottesdienstes in der Kapelle des Vorauer Marienkrankenhauses statt. Das Krankenhaus geht auf Barbara Sicharter zurück und wird in ihrer Nachfolge von der Kongregation der Schwestern der Unbefleckten Empfängnis („Vorauer Marienschwestern”), die aus der von Barbara Sicharter 1865 begründeten Hausgemeinschaft hervorgegangen ist, betrieben.
Ein komplexes und umfangreiches Verfahren
Im Rahmen eines Seligsprechungsprozesses stellt die katholische Kirche durch ihre höchste Autorität (den Papst) fest, dass eine verstorbene Person in ihrem Glauben wie in ihrem Leben Vorbild war und „Christus in besonderer Weise nachgefolgt ist”. Eine Seligsprechung, die den positiven Abschluss eines solchen mehrstufigen und nicht selten auch langwierigen Prozesses darstellt, versteht sich als Empfehlung der Kirche an die Gläubigen, diesen Menschen „als Vorbild und Fürsprecher bei Gott anzunehmen”, in keinem Fall jedoch als autoritativ verordnete Verpflichtung.
Jeder Seligsprechung (Beatifikation), die die öffentliche Verehrung einer seliggesprochenen Person in einer bestimmten Region gestattet, geht ein umfangreiches kirchliches Verfahren voraus, das auf diözesaner Ebene ihren Anfang nimmt. Dabei werden Leben und Wirken der Person im Detail erforscht, Unterlagen gesammelt und Informationen eingeholt. Nach dem Abschluss des Verfahrens auf diözesaner Ebene werden die Akten, die diese Untersuchung dokumentieren, der Kongregation für Selig- und Heiligsprechungen in Rom übermittelt. Diese prüft ihrerseits in einem eigenen Verfahren die Echtheit der vorgelegten Dokumente und nimmt eine Bewertung vor. Teil des Informationsprozesses auf diözesaner Ebene sind auch die Erhebungen und Prüfungen über Wunder und/oder Gebetserhörungen, die dieser Person zugeschrieben werden, über die Tugendhaftigkeit und den „Ruf der Heiligkeit”, d. h. ob es bereits Formen und Ausdruck einer besonderen Verehrung durch die Gläubigen gibt. Zum Informationsprozess gehört auch die Prüfung, ob die betreffende Person auf eine Art zu Tode gekommen ist, die den Kriterien eines „Martyriums” entspricht. Als solches galt etwa der gewaltsame Tod des 1996 seliggesprochenen Priesters Jakob Gapp (1897–1943), der auch in der Steiermark als Seelsorger gewirkt hatte und 1943 vom NS-Regime hingerichtet worden war. Nach Abschluss der Erhebungen durch das vatikanische Gremium legt dieses dem Papst seine Stellungnahme vor. Nach einer positiven päpstlichen Entscheidung ist die regionale Verehrung als Selige/r gestattet.
Der Prozess wird von einer Reihe von Personen bzw. Gremien begleitet. Auf diözesaner Ebene ist der Ortsordinarius im Prozess durch einen Delegaten vertreten. Im konkreten Fall der beiden steirischen Seligsprechungsprozesse wurde der Leiter des Diözesangerichts, Msgr. Dr. Gerhard Hörting, mit dieser Aufgabe betraut. Postulator der beiden causae ist P. Anton Witwer SJ. Dem Postulator obliegt es, nach Abschluss der Erhebungen eine sog. positio zu verfassen, die die Ergebnisse zusammenfasst. Dem am Verfahren ebenfalls beteiligten sog. promotor iustitiae (Kirchenanwalt) kommt die Aufgabe zu, auf Basis dieses Berichts Fragenkataloge für Zeugenbefragungen zu erarbeiten, die dann auf diözesaner Ebene erfolgen. Die Arbeit des Postulators wird durch Mitglieder einer eigens für das Verfahren auf diözesaner Ebene bestellten Historikerkommission unterstützt, die Quellen zu Biographie des oder der Kandidaten sammeln und bewerten. In einem Bericht an den Bischof fasst die Kommission ihre Ergebnisse zusammen. Dieser Bericht enthält auch Angaben zur Vorgangsweise ihrer Arbeit, eine Bewertung der Quellen und ihrer Authentizität. Der vom steirischen Diözesanbischof eingesetzten Kommission gehören der Propst des Augustiner-Chorherrenstiftes Vorau Mag. Bernhard Mayrhofer, der Vorauer Stiftsarchivar Mag. Stefan Reiter, die Archivarin der Vorauer Kongregation Sr. Clara Maria Neubauer, Dr. Norbert Allmer (Archiv der Diözese Graz-Seckau) und der Verfasser dieses Beitrages an.
Barbara Sicharter – Ein Lebensentwurf wider den Zeitgeist
Die Biographie der Gründerin und die Gründungsgeschichte der Vorauer Schwesterngemeinschaft führt in eine Zeit zurück, in der die durch Jahrhunderte festgefügten ökonomischen und sozialen Strukturen klar bestimmte Rollenbilder vorgaben und an Frauen Erwartungshaltungen formulierten, die im Regelfall auf eine Versorgung in Ehe und Familie hinausliefen. Ein geistliches Leben zu führen, hieß damals, in einen Orden einzutreten.
Geistliche Frauengemeinschaften werden in der historischen, aber auch in der kirchenhistorischen und religionswissenschaftlichen Forschung nach wie vor nur verhalten thematisiert, und dies ungeachtet des Umstandes, dass gerade Religion und Kirche Frauen, insbesondere ab dem 19. Jahrhundert, Aktionsräume und Handlungsmöglichkeiten geboten haben, die ihnen die Gesellschaft damals noch nicht zugestand. Dieser Befund mag überraschen, doch auch ein Blick auf die Gründungsgeschichte der Vorauer Marienschwestern wird dies bestätigen.
Die Wenigzeller Bauerntochter Barbara Sicharter (1829–1905) wählte mit ihren Gefährtinnen einen solchen eigenständigen Weg, um ein gleichermaßen „selbstbestimmtes” wie „geweihtes” Leben zu führen. Mit Unterstützung des Vorauer Chorherrn Karl Englhofer, der zum geistlichen Begleiter wurde, begann Barbara Sicharter am 30. Mai 1865 gemeinsam mit Agnes Wasserbauer in dem von ihr gemieteten sog. Tonihäusl in Vorau ein Leben nach ihrem eigenen Entwurf, um – wie es später die Chronik ihrer Gemeinschaft festhalten sollte – „Gott durch Gebet, Entsagung, Abtötung und Arbeit zu dienen”.
Karl Englhofer war es, der der vorerst aus Barbara Sicharter und drei Gefährtinnen bestehenden Hausgemeinschaft eine Alltags- und in gewissem Sinn auch Lebensordnung gab. Im Mittelpunkt ihres gemeinsamen Lebens, das sich von Beginn weg an Elementen eines Ordenslebens orientierte, stand das Gebet. Handarbeiten sollten ein kleines Zusatzeinkommen verschaffen, ehe der Chorherr den vorerst vier Frauen die Kranken-, Siechen-, Armen- und Altenpflege als weitere Aufgabe und konkretes Apostolat zuwies.
Eine medizinische Grundversorgung war in dieser Zeit am Land kaum gegeben. Die Frauen aus Vorau fanden hier ein reiches Betätigungsfeld. Was zudem für sie sprach, war der Umstand, dass sie aufgrund ihrer Herkunft bei ihrer Tätigkeit in bäuerlichen Haushalten vielseitig einsetzbar waren. Aushilfe und Pflege im Krankheitsfall blieben nicht auf klassische Pflegedienste beschränkt, sondern umfassten durchaus Hilfestellungen im Alltag. In ihrer äußeren Erscheinung unterschieden sich die Frauen nicht von ihrer Umgebung. Ihre Kleidung richtete sich nach den regionalen Gepflogenheiten mit blauen Kleidern, blauen Schürzen und blauen Kopftüchern. Aus dieser Zeit stammte auch die erste Bezeichnung für die Gemeinschaft: „Blaue Schwestern”. Teile der Öffentlichkeit reagierten in den ersten Jahren auf die Tätigkeit Barbara Sicharters und ihrer Gefährtinnen mit Kritik. Manche stießen sich an den – wie sie es nannten – „Betschwestern”, andere wiederum meinten, sollte das Beispiel Schule machen, würde ihnen dies die „besten Dienstmägde wegnehmen”.
Doch zunehmend verstummten solche Anfeindungen. Im Gegenteil: Das Tonihäusl war bald zu klein geworden, sodass Barbara Sicharter 1876 ein Objekt in Vorau ankaufte, in dem sie mit Zustimmung der Bezirkshauptmannschaft Hartberg ein Privatkrankenhaus für 16 Patientinnen und Patienten einrichtete. Auch personell vergrößerte sich die Gemeinschaft ständig. Dies gestattete es, auch den Aktionsraum zu erweitern: Seit 1880 waren Schwestern im Bürgerspital in Pöllau eingesetzt, 1885 folgten ein Erweiterungsbau des Vorauer Standortes, 1897 auf Empfehlung des damaligen kaiserlichen Statthalters der Steiermark, Manfred Graf von Clary und Aldringen, die Gründung eines Vereins, um das Werk abzusichern, in den Jahren 1901 und 1903 ein neuerlicher Aus- und Umbau des Krankenhauses in Vorau.
Ein Blick auf die Schwesterngemeinschaft
Als Barbara Sicharter am 9. Februar 1905 starb, stand ihre Gründung auf einer soliden Basis, auf die ihre ersten Nachfolgerinnen Josefa Schweizer und Theresia Hohensinner – unterstützt von den Vorauer Chorherren, insbesondere durch Propst Prosper Berger – aufbauen konnten. Mit der rechtlichen Absicherung im Jahr 1897 hatte die Gemeinschaft weiter an Attraktivität gewonnen. In ihrer äußeren Erscheinung glichen sich die Mitglieder seit 1898 geistlichen Gemeinschaften an, indem sie nunmehr bereits eine ordensähnliche Kleidung trugen, wenngleich sie nur durch Privatgelübde als Mitglieder des sog. Dritten Ordens der Franziskaner gebunden waren. Diese Gelübde besaßen nach staatlichem Recht keine Relevanz. 1928 wurde die Vorauer Gemeinschaft durch Fürstbischof Ferdinand Pawlikowski in eine Kongregation bischöflichen Rechts umgewandelt. Erst seit damals gelten ihre Mitglieder als Ordensfrauen im Sinn des Kirchenrechts.
Als Marksteine der ersten Jahrzehnte können die Gründung der Filialen und Niederlassungen in Pöllau (1880), Weiz (1908), Schäffern (1913), Pinggau (1928), Graz (1934), Gleisdorf (1936), Hartberg (1940) genannt werden, ebenso die großen Umbau- und Erweiterungsarbeiten des Vorauer Krankenhauses zu Beginn der 1930-Jahre. Diese und in Folge jene zwischen 1957 und 1963 bis hin zu solchen der jüngeren Vergangenheit haben den Vorauer Standort nachhaltig abgesichert und seine Entwicklung hin zur modernen, multifunktionalen Heilstätte des 21. Jahrhunderts ermöglicht.
Die Jahrzehnte des Aufbaus der Gemeinschaft hatten jedoch auch ihre Kehrseiten: Der zeit- und kräfteraubende Dienst im Krankenhaus, insbesondere aber in der Hauskrankenpflege, für die mitunter weite Wegstrecken zurückgelegt werden mussten, führte manches Mitglied an die Grenze der physischen und psychischen Belastbarkeit. Barbara Sicharter sah diese Tätigkeit stets als „Mission”. Ihrem Beispiel und dem ihren ersten Gefährtinnen folgten seit 1865 rund 200 Frauen. Zumeist stammten sie aus der Oststeiermark mit dem Schwerpunkt rund um Vorau. Nahezu einheitlich war ihr sozialer Hintergrund aus ländlich-bäuerlichem Milieu.
Zu diesem sozialen Kreis hatte auch Margareta Krückl (1918–1945) gehört. Sie stammte ebenfalls aus einer Bauernfamilie in Wenigzell und war daher mit schweren Arbeiten von Kindheit an vertraut. Nach der Mitarbeit am väterlichen Hof trat sie 1944 in die Vorauer Kongregation ein, begann ihr Noviziat und erhielt den Ordensname Maria. Als sich im April 1945 die Front Vorau näherte, kehrte Sr. Maria auf Rat ihrer Oberin in ihr Elternhaus zurück. Dort wurde sie am 8. April 1945 von einem russischen Soldaten, der ihr Gewalt antun wollte und gegen den sie sich heftig wehrte, vorerst schwer verletzt und schließlich mit zwei Schüssen getötet. An ihren gewaltsamen Tod, den Familienangehörige und Nachbarn in ihrem Versteck am Heuboden mitanhören hatten müssen, erinnert heute ein Gedenkstein am Friedhof von Wenigzell, wo Maria Krückl am 11. April 1945 beigesetzt wurde.
Ein kurzes Resümee
Wie jede geistliche Gemeinschaft waren auch die Vorauer Schwestern immer wieder aufgerufen, sich den Herausforderungen des klösterlichen Alltags und der jeweiligen Zeit zu stellen. Die kleiner werdende Zahl an Berufungen seit den frühen 1960er Jahren, die Neupositionierungen im Zuge des Zweiten Vatikanums, die Aufgabe von Niederlassungen oder die Altersstruktur des Konvents waren bzw. sind ohne jeden Zweifel Herausforderungen für die Kommunität. „Jede Veränderung, jede Anpassung an die Erfordernisse der Zeit und insbesondere jede Neuorientierung können Ängste hervorrufen oder von Unsicherheit begleitet sein. Auch unsere Gemeinschaft machte diese Erfahrung”, hielt die derzeitige Generaloberin M. Marianne Schuh 2015 anlässlich des 150-Jahrjubiläums ihrer Gemeinschaft fest. Heute zählt die Kongregation, die jeweils am 8. Dezember ihr Patrozinium feiert, 32 Mitglieder (31 Schwestern und eine Novizin).
Literatur in Auswahl:
- Pius Fank, Barbara Sicharter. Landmädchen und Gründerin der Vorauer Schwestern (Vorau ²1969).
- Kongregation der Schwestern von der Unbefleckten Empfängnis Mariens in Vorau (Hg.), Das Leben und Sterben der Dienerin Gottes Sr. Maria Margareta Krückl, Novizin der Vorauer Schwestern (Vorau 2023).
- Peter Wiesflecker, „... man erwartet von Euch keine Heiligen ...”. Struktur und Transformation geistlicher Frauengemeinschaften im 19. und 20. Jahrhundert am Beispiel der Grazer Karmelitinnen, der Benediktinerinnen von St. Gabriel und der Vorauer Marienschwestern (= Grazer Universitätsverlag, Allgemeine wissenschaftliche Reihe 39, = Forschungen zur geschichtlichen Landeskunde der Steiermark 72, Graz 2015).
- Peter Wiesflecker (Hg.), „Ihr geht auf Mission!” 150 Jahre Vorauer Marienschwestern. Festschrift anlässlich des 150-Jahrjubiläums (Klagenfurt–Laibach/Ljubljana–Wien 2015).
ArR Priv.-Doz. Mag. DDr. Peter Wiesflecker MAS, LL.M., MA, Studien der Geschichte, Archivwissenschaft, Geschichtsforschung und des Kirchenrechts in Wien und der Religionswissenschaften in Graz, seit 1998 wissenschaftlicher Beamter am Steiermärkischen Landesarchiv; Privatdozent für Österreichische Geschichte an der Universität Graz, Lehrbeauftragter für Archivwissenschaft an den Universitäten Wien und Graz sowie für Österreichische Geschichte/Archivwissenschaft an der Universität Klagenfurt. Mitglied der Historischen Landeskommission für Steiermark.
Forschungsschwerpunkte: Österreichische Geschichte, Landesgeschichte, Adelsgeschichte, Kirchenrecht, Volkskunde und Archivwissenschaften.
Er ist Mitglied der von Diözesanbischof Wilhelm Krautwaschl eingesetzten Historikerkommission im Rahmen der beiden Seligsprechungsprozesse.