Von der Apotheke auf den Christbaum: Eine kurze Geschichte der (steirischen) Lebzeltentradition
Andrea Hofmeister
Speziell die Weihnachtszeit macht uns bewusst, dass neben manch anderem auch der Lebkuchen als etwas zutiefst mit diesem christlichen Geburtsfest Verbundenes gilt.[1] Wie herausragend traditionsreich die steirische Lebkuchenherstellung ist, zeigt uns die älteste Erwähnung eines Lebzelters in der Steiermark, welche nur ein Jahr jünger ist als die allerälteste Nennung im gesamten deutschen Sprachraum in Schweidnitz an der Oder und gegenüber der ersten Nennung eines Lebzelters in Nürnberg einen Vorsprung von rund einem Jahrhundert beanspruchen kann.[2] Sie findet sich in einer Urkunde vom 24. Juni 1294, ausgestellt in Zeiring, wo ein „Eberhard der Lebzelter”[3] in der Zeugenreihe auftritt. Mehr ist über diesen frühen steirischen Vertreter des Berufsstandes leider nicht bekannt, denn die Ansiedelung des Gewerbes ist in Oberzeiring erst 1697 durch eine Lebzelterkonzession nachweisbar.[4] Und in einer Urkunde vom 1. Mai 1441 wird eine frühe weibliche Vertreterin dieser Zunft in Judenburg genannt, eine Lebzelterin namens Anna.[5]
Die längste durchgehende Tradition dieses Gewerbes scheint in Bad Aussee mit Timotheus Prunner 1584 ihren Anfang genommen zu haben; er musste allerdings als unbeugsamer Protestant das Land verlassen. Die Geschichte des sog. ‚alten Lebzelterhauses‘ in der Hauptstraße Nr. 54 knüpft sich ab 1614 an Georg Gaiswinkler und seine beiden Söhne. Nach mehrmaligem Besitzerwechsel übernahm im späten 19. Jh. der aus Wien gebürtige Zuckerbäcker und Lebzelter Gustav Lewandofsky den Betrieb, gefolgt von seinem Sohn, ehe 1972 der jetzige Besitzer Hugo Rubenbauer in dessen Fußstapfen trat und das Handwerk mit großem Erfolg bis heute weiterführt.[6]
Seit 1846 besteht die ebenfalls weit über die Grenzen des Landes hinaus bekannte Lebzelterei Pirker in Mariazell durchgehend als Familienbetrieb;[7] gleichfalls auf einer langen Familientradition, nämlich bereits in 5. Generation, beruht die ca. 1900 gegründete Lebzelterei Schmid in Kainach bei Voitsberg.[8] Beide Betriebe können stolz darauf verweisen, dass sie noch sämtliche von Honigprodukten abhängigen Berufe unter einem Dach vereinen, wie das im Mittelalter gang und gäbe war: Lebzelterei, Wachszieherei, Metsiederei. Im Ranking der ältesten steirischen Lebzeltereien folgt als nächste die Konditorei Regner in Seckau, wo seit vier Generationen im Gebäude der 1660 erbauten ehem. Hofbäckerei von Adam Gundtschnickh Konditorwaren und seit 1995 verstärkt Lebkuchenspezialitäten hergestellt werden. Ebenfalls intensiv am Aufbau einer eigenen Lebkuchentradition gearbeitet wird in der seit 1939 bestehenden Konditorei Ebner in Pöllau[9], und zwar mit Rezepturen, die von der Seniorchefin selbst entwickelt wurden. Es sei erwähnt, dass die Erzeugung von Lebzelten in Österreich kein eigenes ‚reguliertes‘ Gewerbe mehr darstellt, sondern dem Handwerk der Konditor·innen zugerechnet wird. Es kann jedoch auch unabhängig von einer Lehrausbildung als ‚freies‘ Gewerbe angemeldet werden. In privaten Haushalten ist das Backen von Lebkuchen aller Art besonders in der Vorweihnachtszeit ohnehin seit Jahrhunderten üblich.
Lebzelter, Lebküchner oder Pfefferküchler?
Zunächst in aller Kürze ein paar Begriffsklärungen: Ein Lebkuchenbäcker wird im oberdeutschen Raum als Lebzelter bezeichnet, im übrigen deutschsprachigen Raum als Lebküchler, Lebküchner oder Pfefferküchler. Pfeffer war im mittelalterlichen Sprachgebrauch ein Sammelbegriff für teure fremdländische Gewürze; das süße Gebäck konnte, musste aber nicht obligatorisch getrocknete Früchte des Pfefferstrauchs enthalten.
Mhd. kuochen oder zelte lauteten die regionalen Bezeichnungen für flache Gebäcke. Wie jedoch das Bestimmungswort ‚Leb-‘ zu erklären sei, ist bis heute letztlich unentschieden. Ein charmanter Versuch, das Wort volksetymologisch zu deuten, stammt von Christoph Weigel in seiner Darstellung aller im 17. Jh. gebräuchlichen Handwerke. Er argumentiert, dass Lebkuchen aufgrund der stärkenden Inhaltsstoffe einen hohen gesundheitlichen Wert besitze, also ‚Leben‘ spendend sei.[10] Die historische Sprachwissenschaft vermutet eher einen Zusammenhang mit lat. libum (‚Fladen‘) oder eine Abstammung von ‚Laib‘ (ungesäuertes Brot), was ebenfalls auf die flache Form verweist.[11] Die ursprüngliche Rezeptur des Honiggebäcks, das bereits im alten Ägypten als Grabbeigabe diente, von den Römern den Göttern als Opferkuchen dargebracht wurde und gewiss von beiden gerne selbst verzehrt wurde, bestand aus Honig, simila (d. i. feinstes weißes Mehl, nach dem unsere ‚Semmeln‘ benannt sind) und Gewürzen in unterschiedlicher Kombination.
Als ältester Beleg einer deutschsprachigen Bezeichnung für das würzige Honiggebäck gilt eine Marginalglosse in einer ehem. Tegernseer Handschrift des 11. Jhs.[12] Es handelt sich um eine Annotation zu Vergils Hexametergedicht Georgica (‚Über den Landbau‘), II, 394, die mittels korrespondierender graphischer Hilfszeichen eindeutig auf das Wort liba im lateinischen Text verweist: pheforceltvn, also Gewürz-Honigkuchen, assoziierte der unbekannte Schreiber mit jener Opfergabe, die Bacchus zusammen mit anderen Speisen auf flachen Schüsseln unter feierlichen Gesängen dargebracht wurde, denn laut einer mythologischen Erzählung ist jenem Gott die Entdeckung des Honigs zu verdanken.
Älteste Rezepte in deutscher Sprache
Als angeblich ältestes schriftlich überliefertes Lebkuchenrezept in deutscher Sprache kursiert auf zahlreichen Internetseiten eines aus dem 16. Jh. aus dem Germanischen Nationalmuseum Nürnberg, jedoch stets ohne nähere Quellenangabe. (Die Anfrage der Verfasserin zu dieser Information an das GNM ist bis dato leider unbeantwortet geblieben.) Die exakten Mengenangaben lassen den Schluss zu, dass es sich um ein Rezept aus einer medizinischen Handschrift handeln dürfte:
1 Pfd. Zucker, 1⁄2 Seidlein oder 1/8erlein Honig, 4 Loth Zimet, 1 1⁄2 Muskatrimpf, 2 Loth Ingwer, 1 Loth Caramumlein, 1⁄2 Quentlein Pfeffer, 1 Diethäuflein Mehl – ergibt 5 Loth schwer.[13]
Dass nicht schon früher deutschsprachige Lebkuchenrezepte aufgezeichnet worden wären, scheint wenig plausibel, denn bekanntlich hat die Ausbreitung der Literalität im Spätmittelalter zu einem geradezu explosionsartigen Anstieg schriftlicher Aufzeichnungen jeglicher Art geführt. Doch gerät die Nachschau in den in Frage kommenden Quellen aus eben diesem Grund zur bekannten Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen: Im Bestand spätmittelalterlicher handschriftlicher Kochrezepttextsammlungen in deutscher Sprache bis ca. 1500, den die Grazer germanistische Mediävistik dank intensiver Forschungsbemühungen der letzten beiden Jahrzehnte gut überblickt,[14] sucht man vergeblich nach Lebkuchenrezepten. Die einzige Ausnahme im Gesamtcorpus von rund 60 Rezeptsammlungen mit über 4.500 Einzelrezepten findet sich in einem Münchener Codex aus dem letzten Viertel des 15. Jhs.,[15] jedoch handelt es sich hierbei offensichtlich um keine kulinarische Spezialität, wie der abschließende Hinweis verrät: Jst gar güet vnd nütz zw vil dingen vnnd fur manigerlay presten. („Ist sehr gut und nützlich für vieles und gegen allerlei Gebrechen”). Auch dass neben den Gewürzen Ingwer, Gewürznelken, Muskatnuss und Macis, Zimtrinde und Anis zusätzlich eine Reihe von Heilkräutern gelistet ist – im konkreten Fall Tormentill (Blutwurz), Natterwurz (uneindeutige Bezeichnung für mehrere Heilkräuter), Bärwurz, Feldkümmel und Petersiliensamen –, weist eher in Richtung Arzneirezept. Abgesehen davon benötigte man zur Herstellung von Backwerk (ebenso wie für Brot) einen Backofen, über den mittelalterliche Haushalte in der Regel nicht verfügten. Daher war es nur autarken Wirtschaftsbetrieben wie z. B. Klöstern mit einer separaten Backstube möglich, Brot und Lebkuchen selbst zu produzieren. Wenn dennoch zu bestimmten Festen auch in den einzelnen Haushalten Lebkuchen hergestellt wurden, ließen die Hausfrauen ihre fertig vorbereiteten Teigstücke gegen eine Gebühr beim örtlichen Bäcker backen, wofür idealerweise die Nachwärme vom Brotbacken genützt wurde.
Ein zweites frühes Lebkuchenrezept ist in einer ebenfalls aus dem letzten Viertel des 15. Jahrhunderts stammenden medizinisch-diätetischen Sammelhandschrift aus Augsburg überliefert:
Wiltu gut lekuchen machen Recipe zu einem seydlein hönigs ½ lot negellen, ½ lot muscat, ½ lot Ingwer, ½ lot pfeffers vnd stoß das zu samen vnd dar auß mach einen teig vnd zu einer moß honigs nym zwir souil als vor bezeichent stett etc.[16]
Dieses Rezept (es handelt sich in diesem Fall tatsächlich um ‚Pfeffer-Kuchen‘) enthält sogar exakte Mengenangaben, wie das für medizinische Rezepte charakteristisch, ja unerlässlich ist. Mehl (üblicherweise feines Weizenmehl) fehlt in der Zutatenliste – diese Basis-Ingredienz galt offenbar als selbstverständlich, und eine Mengenangabe erübrigte sich erst recht, da die Menge von der Konsistenz des Honigs abhing: Es musste eben genau so viel Mehl eingeknetet werden, wie es brauchte, um einen zähen Teig zu erzielen. Dieser wurde anschließend gut verschlossen für mehrere Wochen oder gar Monate kühl gelagert, ehe er flach ausgerollt und in Stücke geschnitten gebacken wurde. Die Zugabe eines Backtriebmittels wie Hirschhornsalz und Pottasche oder Natron war bei dieser Grundform der Lebkuchenherstellung noch nicht üblich, weil der Fermentationsprozess während der Lagerung für eine gewisse Teiglockerung sorgt. Das Ergebnis ist zwar nicht steinhart, wie man vielleicht erwarten könnte, aber ziemlich kompakt und zäh und scheint für den unmittelbaren Verzehr wenig geeignet. Außerdem ist der Geschmack lediglich schwach süß und aufgrund des relativ hohen Gewürzanteils von einer (heutzutage) eher als unangenehm empfundenen, bitteren Schärfe begleitet – so weit die Ergebnisse einer experimentellen Umsetzung und Verkostung dieses Rezepts.
In den frühen gedruckten Kochbüchern (ab Ende 15. Jh.) finden sich zunächst vereinzelt, dann immer häufiger Rezepte für verschiedene Varianten von Lebkuchen. Schon ab der zweiten Hälfte des 15. Jhs. wurden süße Backwaren in Zusammenhang mit Festlichkeiten teilweise mit teurem importierten Rohrzucker zubereitet, dessen Gebrauch bis dahin dem Hochadel und reichen Klöstern vorbehalten gewesen war, aber nun auch das Großbürgertum erreicht hatte.[17] Dieser Umstand und die Verfügbarkeit des billigeren melasse-ähnlichen Zuckersirups als Nebenprodukt bei der Raffinierung schlagen sich in den Lebkuchenrezepten nieder – eine Entwicklung, die mit dem Auftreten von Rübenzucker im späten 18. Jh. noch einmal an Dynamik gewinnt. Ab diesem Zeitpunkt wird der Honig, der seit der Reformationszeit (infolge des Rückgangs der Kerzenherstellung für liturgische Zwecke) seltener und teurer geworden war, zunehmend durch preisgünstigen Zucker bzw. Sirup ersetzt.[18]
Gänzlich ohne Honig kommt schon etwas früher das Rezept für Gute Gewuͤrtz-Lebzelt im ältesten gedruckten Kochbuch Österreichs aus dem Grazer Verlag Widmanstetter aus.[19] Die Rezeptur im ersten Kapitel Von allerley Letzelt / Zuckerwerck vnd eingemachten Sachen nennt Zucker und schoͤnes Mehl (Weizenmehl), verzichtet jedoch weiterhin auf Backtriebmittel und verwendet stattdessen Eier, die den Teig lockerer und mürber machen. Weiters finden wir in diesem Kochbuch mehrere mit Mandeln und kandierten Limonen-/Pomeranzenschalen etc. verfeinerte Varianten wie z. B. Muscatzin-Leczelten, eine Art Elisenlebkuchen, der kaum noch Mehl enthält und wegen der weicheren Teigkonsistenz auf Oblaten gebacken wird.
Speziell diese verfeinerte Weiterentwicklung scheint Nürnberg zugeschrieben worden zu sein. Begünstigt durch eine honigreiche Umgebung, in der der begehrte Süßstoff von Zeidlern und Imkern reichlich bereitgestellt werden konnte, aber auch durch den Status einer Handelsstadt mit Zugang zu den benötigten Gewürzen hatte sich Nürnberg bereits früh einen Namen als Lebkuchen-Metropole gemacht, weshalb unter den überlieferten Rezepten so manche als ‚Nürnberger Lebkuchen‘ tituliert werden.[20]
Als weitere Möglichkeit der Formgebung für Lebkuchen erscheint neben der Zeltenform ab dem Spätmittelalter das ‚Modeln‘.[21] Dazu wird der Teig in flache, geschnitzte Holzformen gedrückt, gestürzt und vor dem Backen mehrere Stunden angetrocknet, damit der Reliefabdruck erhalten bleibt. Dass viele Lebzelter ihre Model selbst schnitzten, erweiterte in gewisser Weise das Anforderungsprofil an den Berufsstand. Begabte Zunftmitglieder stellten wahre Kunstwerke her, die sie mit ihrer Signatur versahen. Der älteste signierte und datierte steirische Model gehörte dem bereits erwähnten Georg Gaiswinkler und kann im Schauraum der Ausseer Lebzelterei noch besichtigt werden.
In den mittelalterlichen Herrschaftsküchen war der Beruf des Kochs (zumindest in den höheren Positionen) eine reine Männerdomäne gewesen, während in den Haushalten der unteren Schichten seit jeher Frauen den Kochlöffel geführt haben. Ab der frühen Neuzeit griffen immer öfter adlige Damen, die als Hausherrin die Oberaufsicht über den Haushalt innehatten, zur Feder, um ihren Rezeptschatz aus Küche und Volksmedizin zu Papier zu bringen. Eine von ihnen war die Liechtensteinische Prinzessin und ‚Wahlsteirerin‘ Eleonora Maria Rosalia, verehelichte von Eggenberg (1647–1704). Ihr umfangreiches Handbuch mit dem barocken Titel Freywillig auffgesprungener Granat-Apffel deß Christlichen Samaritans wurde erstmals 1695 in Wien gedruckt und bereits in der Ausgabe von 1697 um Ein gantz neues und nutzbares Koch-Buch erweitert.[22] Das nach Speisentypen sortierte Register rechnet Lebzelten nicht der Rubrik Allerhand Backwerck zu, sondern verzeichnet sie unter der Kategorie Von candirten und eingemachten Sachen, das sind Konserven wie Fruchtlatwergen, Sirupe und in Zuckerlösung eingelegte Früchte und dergleichen mehr. Neben mehrere Rezepte, die wortwörtlich aus dem bereits genannten anonymen ‚Grazer Kochbuch‘ übernommen wurden, tritt eine Reihe von weiteren Lebkuchenvarianten, von denen manche mit der ursprünglichen Idee der Gewürzkuchen höchstens noch die Zeltenform gemein zu haben scheinen (z. B. Lebzeltl von gruͤnen Pomerantzen, die nur aus Pomeranzenschalen und Zucker bestehen, oder Weisse Lemoni-Lebzeltl [...], mit Aepfel oder Kitten vermischt, die eher an schnittfeste Fruchtlatwerge erinnern). Daneben finden sich heute in Privatbesitz und in öffentlichen Archiven zahlreiche handgeschriebene ‚Hausfrauen-Kochbücher‘ des 17. bis 19. Jhs. – individuelle Einzelstücke, geschrieben von und für Frauen –, und man darf ohne Übertreibung behaupten, dass in jedem Exemplar zumindest ein Lebkuchenrezept überliefert ist. Solche Aufzeichnungen von bewährten ‚Familienrezepten‘ für die nachfolgenden Generationen kennen wir wohl alle. Als Beispiel sei das folgende lose Blatt aus der Rezeptsammlung der Anna von Pebal (ihr Mann war Verwalter von Gütern Erzherzog Johanns in Kaisersberg im Murtal) herausgegriffen:[23]
<L>ebzelt. Man nimt eine halbe Honig in ein Reindel läßt es auf sieden, dan giebt man ½ lb gestossenen Zucker, etwas Neugewirtz Zimmt und Gewirtznageln, alles gestossen und von 2 Limo<n>ien die Schallen hinein rirt es gut durcheinander und gießt es heiß in eine Maß Mehl in eine Schüßel verrirt es gut und läßt es wenigstens 4 Stund an einen kühlen Ort stehen, dan sticht man den Teig heraus Walgt in teilweise aus und radelt lä<n>glichte streifel oder sticht es mit einen Ausstecher aus legt es aufs B<l>ech welches man aber nur ganz wenig mit Schmaltz anschmiert und schnel Bacht.
Dieses Rezept aus dem frühen 19. Jh. fügt sich repräsentativ in die Entwicklungslinie der Lebzeltenrezepte: Weiterhin kommt kein chemisches Backtriebmittel zum Einsatz,[24] dafür Honig und Zucker, und zur Aromatisierung werden zusätzlich zu Zimt und Gewürznelken Schalen von Zitrusfrüchten verwendet, welche hierzulande seit der Barockzeit immer häufiger anzutreffen sind, und – neu (zumindest innerhalb der durchgesehenen Lebkuchenrezepte) – Neugewürz (auch Piment, Nelken- oder Jamaicapfeffer genannt), das erst spät nach Europa gebracht wurde, obwohl es bereits auf einer Expedition des Columbus entdeckt worden war.[25]
Ein vielseitiges Lebensmittel
Lebkuchen waren über Jahrhunderte beliebt und begehrt, nicht nur in Klöstern und in Adelskreisen, sondern zu allen Festtagen des Jahres ebenso in der übrigen Bevölkerung, wenngleich die Frage offenbleiben muss, wie viel an kostbaren Importgewürzen sich Letztere für ihr Festtagsgebäck leisten konnten. Abstriche ließen sich jedenfalls bei der Qualität des verwendeten Mehls machen, denn manchmal ist von Roggenmehl oder von weniger fein gesiebtem Weizenmehl die Rede.
Aufgrund der ursprünglich eher schlichten Zusammensetzung eignete sich Lebkuchen perfekt zur Ernährung in strengen Fastenzeiten, denn für die Herstellung wurden weder Fleisch noch Milch noch Eier benötigt, und die teuren Gewürze waren von den einschränkenden Speisenvorschriften ausgenommen, da sie zu den Arzneimitteln zählten und ursprünglich von Apotheken vertrieben wurden.
Wegen der guten Lagerfähigkeit wurden Lebkuchen gerne als Reiseproviant (z. B. auf Pilgerfahrten) mitgeführt und wegen der angeblich verdauungsregulierenden Wirkung zugleich als fixer Bestandteil der Reiseapotheke empfohlen. Kulinarisch ist Lebkuchen in mittelalterlichen Kochrezepten recht häufig als Zutat für andere Speisen anzutreffen, z. B. als Soßenbinder und Gewürzkonzentrat für Fleischragouts (und zwar nicht nur vom Wild, wie heute noch als Geheimtipp gehandelt, sondern auch, um durch die dunkle Färbung der Soße ein Wildgericht zu imitieren) oder als Grundzutat für die Herstellung von Lebkuchensalse. Hier ein Beispiel aus einer Berliner Handschrift:[26]
Wilthu machen Eÿnn Gütte salsenn vonn letzeltenn So schneidt In din alls ein peffer prott vnd Seidt Inne abe mitt wein vnd streichenn durch als ein peffer vnd thu darzu zimendtrinttenn vnd Inber des genüg seÿ vnd welles ab In einer pfannen vnd geẅß vff die salsenn schüssell vnd thu ein zucker dar vff
Lebkuchensalse wurde vornehmlich als Beilage zu gebratenem Fisch gereicht. Diese heute ungewöhnlich anmutende Speisenkombination ist der Forderung nach dem richtigen ‚Temperieren‘ (von lat. temperare ‚mischen‘) der Gerichte nach den Regeln der Säftelehre geschuldet, denn die warm-trockenen Importgewürze galten als idealer Gegenspieler zur kalt-feuchten Primärqualität von Fisch, sodass damit die Wirkung auf den Organismus ausgeglichen und eine mögliche Schadwirkung verhindert werden sollte.
Lebkuchen als Christbaumschmuck
Ein erster Hinweis auf die Verwendung von Lebkuchenfiguren als Schmuck für einen Weihnachtsbaum stammt aus Freiburg im Breisgau. Mitglieder der Bäckerzunft sollen dort 1419 im Heilig-Geist-Spital einen Tannenbaum mit Äpfeln, Nüssen und Lebkuchen festlich geschmückt haben.[27] Ob die Lebkuchen später verzehrt wurden, ist nicht explizit überliefert, aber naheliegend, denn essbarer Christbaumschmuck war bis vor nicht allzu langer Zeit mitunter das einzige Weihnachtsgeschenk für Kinder.
Da der kompakte Lebkuchenteig beim Backen gut seine Form bewahrt, eignet er sich hervorragend zur Herstellung von kleinen Kunstwerken. Von gemodelten Lebkuchen war bereits oben die Rede; diese Gestaltungsform, die man auch von verwandtem Adventgebäck wie Springerle und Spekulatius kennt, wird für die Bestimmung als Christbaumschmuck zumindest hierzulande heute meist in Wachs gegossen und kann so viele Jahre wiederverwendet werden.
Schon früh wurde ferner damit begonnen, aus dem flach ausgewalkten Teig statt rechteckiger Zelten Figuren auszuschneiden oder auszustechen, mit Mandeln und kandierten Früchten zu belegen oder nach dem Backen mit Zuckerglasur zu verzieren. Wer kennt nicht die großen herzförmigen Kirchtagslebzelten mit aufgespritzten Liebesbotschaften oder detailreich verzierte Lebkuchenhäuschen! Als Christbaumbehang eignen sich freilich besser kleine Motive wie Engel, Sterne und Herzen, die in ihrer Symbolik ursprünglich ganz dem Anlass des christlichen Hochfestes verpflichtet waren.
Weniger verbreitet scheint die Gestaltung von Lebkuchenfiguren aus bleistiftdünnen Teigrollen zu sein, die zu schlichten Herzen, kleinen Vögeln, Hirschen, Weihnachtsengeln, einem Wickelkind und Trachtenpärchen geformt werden. Die Anregung dazu ist mir vor etlichen Jahren über Vermittlung durch Univ.-Prof. Dr. Günter Cerwinka bekannt geworden in Form von Zeichnungen aus dem Hause des ehem. Archivars am Steiermärkischen Landesarchiv, Dr. Wolfgang Sittig. Ob es sich dabei um eine altsteirische Tradition handelt, wie ich lange dachte, lässt sich nicht mehr erfragen, weil die Urheberin längst verstorben ist. Recherchen im Internet führten über weite Umwege zu einer möglichen Verwandtschaft mit dem skandinavischen Brauchtumsgebäck namens ‚Lussekatt‘ (‚Katze der heiligen Luzia‘, vgl. Abb. 8 rechts unten) aus safrangelb gefärbtem Hefeteig. Wohl ursprünglich aus heidnischer Tradition stammend, hat die christliche Adaptierung u. a. ein ‚Weihnachtskreuz‘ (schwed. julkors, vgl. Abb. 8 rechts oben) hervorgebracht, das einem Motiv auf der Zeichnung verblüffend ähnelt.
Sollte jemand aus dem Kreis der werten Leser·innenschaft diese Art der Lebkuchen-Formgebung kennen und Näheres darüber wissen, wäre die Verfasserin für entsprechende Hinweise dankbar! Und falls diese kreative Variante von Gebildlebkuchen in der Steiermark noch keine Tradition aufweist, könnte man eventuell überlegen, eine solche zu forcieren, auch über die weihnachtliche Lebkuchenzeit hinaus.
Anmerkungen
[1] Der Konnex zwischen Bienen als Lieferanten der zentralen Zutat von Honigkuchen und der Jungfrau Maria ist näher erläutert bei Wernfried Hofmeister, „Sizi, sizi, bina!” Deutschsprachige Bienenbeschwörungen zwischen Mittelalter und Neuzeit mit einer Neuinterpretation des „Lorscher Bienensegens”. In: Gerhard Ammerer/Michael Brauer u. a. (Hgg.), Bienen und Honig. Beiträge zu einer Kulturgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart (Innsbruck 2023), 165–177.
[2] Vgl. Karl F. Kittelberger, Lebkuchen und Aachener Printen, Geschichte eines höchst sonderbaren Gebäcks (Aachen 1988) [in Folge: Kittelberger, Lebkuchen], hier: 49 und 51.
[3] Abgedruckt bei Jakob Wichner, Geschichte des Benediktiner-Stiftes Admont, Bd. II (Graz 1876), 451–452 (Nr. 321).
[4] Vgl. Walter Brunner, Oberzeiring, Wechselvolle Geschichte der Bauern und Bürger eines kleinen Lebensraumes (Oberzeiring 2006), 577. Die Erfolgsgeschichte der Lebzelterei in der Steiermark ist ausführlich nachzulesen bei Sepp Walter, Aus der Geschichte der steirischen Lebzelter und Wachszieher. In: Das steirische Handwerk. Katalog zur 5. Landesausstellung 1970, I. Teil (Graz 1970), 449–477 [in Folge: Walter, Lebzelter und Wachszieher].
[5] Dieser Hinweis auf das Dokument StLA, AUR-5726b: 1440-05-01, --, stammt von HR Hon.-Prof. Mag. Dr. Elisabeth Schöggl-Ernst MAS; bei Sepp Walter ist dieser Beleg noch nicht verzeichnet, jedoch konnte der Autor für Judenburg bereits im Jahr 1415 einen „Nicla Lebzelter" nachweisen (vgl. Walter, Lebzelter und Wachszieher 449).
[6]Die Geschichte des Betriebs ist umfassend dargestellt von Franz Stadler, Lebzelterhandwerk in Aussee. In: 400 Jahre Ausseer Lebkuchen (= Schriftenreihe des Landschaftsmuseums Schloß Trautenfels. Sonderdruck, Bad Aussee 1984), 1–16; siehe auch www.lebkuchen.at. Das Salzkammergut weist generell eine besondere Dichte an Lebzeltereien auf, z. B. auch in Bad Ischl, St. Wolfgang und Gmunden (Oberösterreich).
[7] Vgl. www.lebkuchen-pirker.at/de/ueber-uns
[8] Vgl. lebzelterei-schmid.at/ueber-uns
[9] Vgl. www.konditorei-ebner.at
[10] Vgl. Christoph Weigel, Abbildung Der Gemein-Nützlichen Haupt-Stände [...] biß auf alle Künstler Und Handwercker (Regensburg 1698), 515.
[11] Vgl. Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache (Berlin–New York 221989), 433.
[12] München, BSB, Clm 18059, online: https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb00034661?page=344,345.
[13] Immerhin konnte ich herausfinden, dass es sich bei dem verbreiteten Textzitat um eine nicht ganz fehlerfreie Übersetzung des überlieferten Textes handeln dürfte, denn in einem Abdruck desselben Rezepts durch Johann Kamann, Aus Nürnberger Haushaltungs- und Rechnungsbüchern des 15. und 16. Jahrhunderts (Schluss). In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 7 (1888), 65, Anm. 5, ergibt der abschließende Hinweis mehr Sinn: Mach ains fünf lot schwer.
[14] Zwei Datenbanken sind auf Initiative von Helmut W. Klug entstanden: Das MPS-Repository und die Plattform Cooking Recipes of the Middle Ages, sowie mehrere Ersteditionen im Rahmen von Masterarbeiten unter der Betreuung der Verfasserin.
[15] München, BSB, Cgm 725, fol. 41r, online: gams.uni-graz.at/o:corema.m5#M5_041r.
[16] Augsburg, Universitätsbibliothek, Öttingen-Wallerstein III.1.2° 43, fol. 2r. Übersetzung: Willst du guten Lebkuchen machen, nimm zu einem Seidel (je nach Region 0,35 bis 0,5 l) Honig, je 8 g Nelken, Muskatnuss, Ingwer und Pfeffer und stoße das gemeinsam und mach daraus einen Teig. Und zu einer Maß Honig nimm doppelt so viel wie zuvor angegeben ist.
[17] Vgl. Kittelberger, Lebkuchen 53.
[18] Vgl. Astrid Böhm, Honiggewinnung und Verarbeitung im Mittelalter. Dargestellt am Zeidelwesen und anhand kunsttechnologischer sowie (haus-)wirtschaftlicher Rezepte. In: Gerhard Ammerer/Michael Brauer u. a. (Hgg.), Bienen und Honig. Beiträge zu einer Kulturgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart (Innsbruck 2023), 57–75, hier 65.
[19] Ein Koch- und Artzney-Buch, 2. Ausg., Grätz: Widmanstetters Erben 1688, S. 3, online: digital.slub-dresden.de/id313701709.
[20] So z. B. in mehreren Handschriften der UB Heidelberg aus dem 16. Jh.
[21] Vgl. Kittelberger, 51f.
[22] Ausgabe von 1741 online: www.digitale-sammlungen.de/de/details/bsb11106880.
[23] Diese und weitere Archivalien aus dem Familienverband wurden von Univ.-Prof. Dr. Walter Höflechner dem StLA überlassen.
[24] Wann es üblich wurde, Hirschhornsalz und Pottasche bzw. Natron zur Teiglockerung einzusetzen, müsste erst durch breiter angelegte Rezeptstudien eruiert werden; dass Lebkuchen ‚seit jeher‘ damit gebacken wurde, wie auf manchen Internetseiten zu lesen steht, darf auf Basis meines groben Befundes angezweifelt werden, denn wenn dem so wäre, hätten die Aufzeichner·innen von Backrezepten diese für das Gelingen nicht unwesentliche Information gewiss nicht so beharrlich verschwiegen.
[25] Vgl. Gernot Katzers Gewürzseiten: gernot-katzers-spice-pages.com/germ/Pime_dio.html.
[26] ‚Königsberger Kochbuch‘ Berlin, Geheim. Staatsarchiv Preuß. Kulturbesitz, XX HA OBA Nr. 18384, fol. 12v, online: gams.uni-graz.at/o:corema.b6#B6_012v. Übersetzung: Willst du eine gute Salse aus Lebzelten machen, so schneide ihn dünn wie ein Pfefferbrot und siede ihn mit Wein und streiche ihn durch (sc. ein Sieb oder Tuch) wie einen Pfeffer (= Gewürzsoße) und gib genug Zimtrinde und Ingwer dazu und koche es in einer Pfanne auf und gieße es in die Salsenschüssel und streue Zucker darauf.
[27] Vgl. Ingrid Sasse, Weihnachtszauber, Ein Adventskalender der Weihnachtsbräuche (Norderstedt 2020), 87.
Priv.-Doz. Mag. Dr. Andrea Hofmeister, Studium der Germanistik und Klassischen Philologie in Graz, seit 2012 Privatdozentin für Germanistische Mediävistik am Institut für Germanistik der Universität Graz.
Forschungsschwerpunkte: Editionswissenschaft, geistliche Dichtung des Spätmittelalters, historische Kulinarik und Diätetik. Gründungsmitglied des seit 2010 bestehenden Vereins ‚ KuliMa – Kulinarisches Mittelalter Graz‘ an der Universität Graz.