Adeliges Leben zwischen den Kriegen – Streiflichter auf den innerösterreichischen Adel zwischen 1918 und 1938
Peter Wiesflecker
Im Fokus dieser Betrachtungen einer adeligen Landschaft der ehemaligen Habsburgermonarchie stehen Familien aus den einstigen Kronländern Steiermark, Kärnten, Krain und dem Küstenland (mit Triest und Görz). Die historische Forschung benennt diese Ländergruppe, die von 1564 bis 1619 ein eigenes Fürstentum gebildet hatte, mit dem Begriff „Innerösterreich”. Auch für die vorliegende Zusammenschau soll dieser politisch-administrativ-geographische Begriff verwendet werden, fasst er doch den Adel einer Region, dessen Lebenswirklichkeit und ökonomische Grundlagen ähnlich waren, territorial zusammen.
Am Ende der Donaumonarchie bestanden in Innerösterreich 73 Realfideikommisse (Steiermark 30, Kärnten 14, Krain 10, Küstenland 19). Von diesen waren nur zwölf größer als 5.000 Joch (Steiermark 2, Kärnten 6, Krain 4) und weitere zehn immerhin noch größer als 1.000 Joch (Steiermark 5, Kärnten 3, Krain 2). Insgesamt umfasste die fideikommissarisch gebundene Fläche in diesen vier Kronländern rund 130.000 Hektar. Diese Fläche war damit weit geringer als der fideikommissarisch gebundenen Besitzes der älteren Linie des Hauses Schwarzenberg oder des Hauses Liechtenstein in Böhmen.
Damit ist bereits deutlich, dass der wirtschaftliche Hintergrund selbst der großen und alten Familien Innerösterreichs mit dem gleichrangiger Familien in Ungarn oder Böhmen nicht zu vergleichen war. Die böhmische und ungarische Aristokratie verfügte über andere Mittel als der Adel Innerösterreichs. So war etwa der Murauer Besitz der Familie Schwarzenberg mit rund 20.000 Hektar für steirische Verhältnisse zwar mehr als beachtlich, im Verein der Schwarzenbergischen Herrschaften in Böhmen kam ihm jedoch nur zweitrangige Bedeutung zu. Eine Ausnahmestellung unter dem innerösterreichischen Adel nahmen die in Gottschee (Krain) beheimateten Auersperg ein, doch verband man mit ihnen – zumindest mit dem fürstlichen Zweige – weit eher die Vorstellung von altem Hoch- und Hofadel als der des landgesessenen Adels in einem Kronland der Peripherie. Der Besitz anderer Familien von ursprünglich innerösterreichischer Provenienz, die zum inneren Kreis der habsburgischen Hofgesellschaft gehörten, war in ihren einstigen Stammländern wesentlich bescheidener. Die böhmischen oder mährischen Besitzungen von Familien wie Windisch-Graetz, Trauttmansdorff oder Paar übertraf jenen, den sie in der Steiermark und in Krain hatten, bei Weitem. Alois (Prinz von) Auersperg (1897–1984) berichtet in seinen Lebenserinnerungen, dass die in Böhmen beheimatete Aristokratie auf ihre Standesgenossen in den österreichischen Kernländern stets mit einer gewissen Überheblichkeit geblickt habe.
Nach den Pariser Vororteverträgen von 1919 war dieses Territorium nunmehr auf mehrere Staaten (Österreich, SHS-Staat [ab 1929 Jugoslawien] und Italien) aufgeteilt. Das Kronland und nunmehrige Bundesland Steiermark wurde sogar um ein Drittel seines Territoriums, die Untersteiermark, reduziert, die an den neugegründeten SHS-Staat gefallen war. Die junge österreichische Republik verabschiedete im April 1919 ein Adelsaufhebungsgesetz, wonach die Vorrechte des Adels aufgehoben und die adelige Namensführung verboten wurden. Pläne der Sozialdemokratischen Partei, die in Richtung einer Landreform und der Enteignung des Großgrundbesitzes gingen, besaßen im diffizilen innenpolitischen Gefüge der krisengeschüttelten Ersten Republik keine wirkliche Chance auf Realisierung, blieben jedoch als Forderung des Parteiprogramms bestehen.
Das Adelsaufhebungsgesetz traf allerdings weniger die alten Familien des Landes als vielmehr jenes Segment des österreichischen Adels, das die Forschung als sogenannte „Zweite Gesellschaft” definiert, insbesondere den Kreis des (systemmäßigen) Militäradels und der neuadeligen Verwaltungs- und Wirtschaftseliten. Ihr Adel war zumeist nur durch die adelige Namensführung, ergänzt durch Ehrenworte und/oder Prädikate, sichtbar, die nunmehr verboten waren. Der Familienname führte solche Familien in der öffentlichen Wahrnehmung gleichsam in ihr Herkunftsmilieu zurück. Mit Blick auf den österreichischen Adel, der ohnehin nie ein monolithischer Block, sondern vielmehr ein ungemein differenziertes System unterschiedlichster Ränge und vor allem Lebenswirklichkeiten war, sollte Otto Friedländer in seinem lesenswerten Buch „Letzter Glanz der Märchenstadt” ironisch festhalten: Und zwischen all dem Glanze [gemeint ist der alte Adel mit seinen bekannten, zum Teil sogar wirkmächtigen Namen] tummelt sich munter das heitre Zwergenvolk der Dokupils und Sedlaks, der Horvaths und Kovacs, der Hubers und Müllers.
Für diese gesellschaftliche und soziale Schicht bedeutete das Ende der Monarchie, das Karrieren in Armee und Staat weitestgehend beendete, einen tiefgehenden Einschnitt. Zum Verlust des Sozialprestiges kam für die Familien des Beamten- und Militäradels eine pekuniäre Enge, welche sich durch die dem Weltkrieg folgende Inflation verstärkte. Die ökonomische Basis dieser Familien war schon in der Monarchie schmal gewesen. Der äußere Schein war bereits in den letzten Friedenszeiten und in den vier Kriegsjahren nur mühsam gewahrt worden. Dazu ein Fallbeispiel „adeliger Armut” aus dem steirischen Wildon aus der Zeit unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg: Im Frühjahr 1914 ersuchte die 65-jährige Valerie von Illitzstein den Kärntner Landesausschuss, sie für eine Präbende des Adeligen Kärntner Damenstifts in Vormerkung zu nehmen. Sie stammte aus einer im späten 18. Jahrhundert geadelten Kärntner Familie. Nach dem Verlust des Familienbesitzes war sie in den Postdienst getreten und hatte im Haushalt ihres Bruders gelebt, eines einstigen Dragonerleutnants, der nach einer Verwundung als Invalide seinen Militärdienst quittieren hatte müssen und als Verwalter des landschaftlichen Siechenhauses in Wildon eine Anstellung gefunden hatte. Nach dem Tod des Bruders und der krankheitshalber Enthebung vom Postdienst erhielt sie eine Allerhöchste Gnadengabe von 240 Kronen im Jahr, da damals noch keine Pension für weibliche Dienstkräfte existierte. Im Laufe der Jahre war die kaiserliche Gnadenpension lebenslang auf 500 Kronen jährlich (2023: 3.400 €) erhöht worden, was meine ganze Einnahme bildet und mehr als Entbehrungen auferlegt, da das Alter kein rüstiges ist, sondern seelisch und körperlich gebrochen einsetzt, durch eigene Tätigkeit keine Existenzbedingungen erfüllen kann. Ihr Gesuch wurde abschlägig beschieden, da sie die Kriterien für eine Vormerkung nicht erfüllte. Valerie von Illitzstein starb Ende Februar 1921 in Wildon. Das Sterbebuch gibt neben einer Herzerkrankung auch Unterernährung als Todesursache an.
Durch Inflation und Wirtschaftskrise sollte sich die finanzielle Lage von Familien der einstigen „Zweiten Gesellschaft” weiter verschärfen. Der aus geadelter österreichischer Offiziersfamilie stammende und als Jurist bei einer Grazer Bank tätige Franz Steiner (Edler von Treuendorf) (1893–1966) machte seinen Eltern im April 1922 von seiner Verlobung mit der Tochter eines ehemaligen kaiserlichen Generals Mitteilung, bat jedoch um Diskretion, da der Eheschließung noch eine ganze Reihe von Hindernissen, vornehmlich finanzieller Natur entgegenstanden. Sein Vater, der 1919 als Generalmajor pensioniert worden war, hielt in seinem in den Monaten Februar und März 1923 verfassten Testament fest: An irdischen Gütern habe ich wenig zurück zu lassen. Sein Testament lässt nicht nur einen Einblick in seine ökonomische Situation zu: Und als dann der schreckliche Zusammenbruch kam, der Alles, was mir teuer war, vernichtete, hat der liebe Gott auch dafür gesorgt, dass ich wenigstens meine Familie nicht hungern lassen musste. – Wir mussten zwar Manches entbehren, was speziell meine arme Frau hätte brauchen können, aber anderen ging es noch schlechter. – Sehr schmerzlich war mir die Trennung von einigen kostbaren Andenken meiner Frau, aber sie mussten geopfert werden. [...] Ich scheide nicht schwer von der Welt. – In dem Bewusstsein in 43jähriger pflichteifriger Arbeit meinem Kaiser und dem Vaterland gegenüber meine Pflicht nach bestem Wissen und Gewissen erfüllt zu haben, wird mir das Scheiden nicht schwer, umso mehr als alle meine Ideale zertrümmert wurden und alles, was mir hoch und heilig, unantastbar war, von einer gewissenlosen Demagogie in den Kot geschleift wurde. – Ich habe darunter schwer gelitten, aber habe mich jetzt damit abgefunden [...]
Die alten Familien des Landes, deren Vermögen sich zum überwiegenden Teil auf Landbesitz gründete, waren hierin bessergestellt. Die Ressourcen sollten zwar in den folgenden Jahren kleiner werden und Einschränkungen wurden notwendig, doch am durch Jahrhunderte gewohnten und auch kultivierten Jahreslauf mit Stadt- und Landaufenthalten, Besuchen und Gegenbesuchen von und bei Verwandten und Standeskollegen wurde festgehalten, wie auch den Erinnerungen von Louis Attems (1926–2023), einem der jüngeren Söhne von Ferdinand Graf Attems, des Majoratsherrn auf Burg Feistritz (seit 1919 im SHS-Staat), zu entnehmen ist. Nurse, Gouvernanten, Landpartien, Jagd, Tennis, Besuche und Gegenbesuche sowie der Unterricht durch Hauslehrer gehörten nach wie vor zum Curriculum. Ähnliches berichtet auch der 1925 geborene und 2010 verstorbene Kärntner Aristokrat Heinrich Orsini-Rosenberg in seinen Lebenserinnerungen: Wie es damals üblich war, wuchsen wir Kinder hauptsächlich unter der Aufsicht wechselnder Erzieherinnen auf. [...] Von den Eltern sahen wir im Vergleich zu den Kindern von heute relativ wenig; in der Früh durften wir „Guten Morgen” sagen kommen, zu Mittag mit ihnen und den Großeltern gemeinsam essen. [...] Am Abend durften wir, dann schon in Nachthemd und Pyjama gehüllt, noch einmal erscheinen, um „Gute Nacht” zu wünschen. Charlotte Keil-Meran (1929–2023), Tochter des Stainzer Schlossherrn Franz (Graf von) Meran (1891–1983) berichtet Ähnliches aus ihrer Kindheit. Der Kärntner Aristokrat Leopold (Graf) Goëss (1916–2005) schreibt über die Verhältnisse im Elternhaus seiner Frau, einer geborenen (Gräfin) Kottulinsky, auf Schloss Neudau in der Steiermark: In der Familie meiner Frau gab es während der großen Wirtschaftskrise nach dem Ersten Weltkrieg noch zwei Diener, einen Chauffeur, eine Köchin, zwei Kammerhilfen, eine Kinderfrau, ein Kindermädchen, eine Kammerjungfrau, zwei Stubenmädchen und einen Ofenheizer. Als notwendige Sparmaßnahmen durften die Kinder aber nur mehr ein Stück Zucker für den Frühstückskaffee verwenden und sich im übrigen vorwiegend von hausgemachtem Schwarzbrot, hausgemachter Marmelade, Polenta und anderen auf dem Hof erzeugten Lebensmitteln sowie Wild ernähren. Geld für den Zukauf sogenannter Kolonialwaren war keines vorhanden.
Über seine eigene Kindheit berichtet Leopold Goëss: Man war auch bemüht, die Kinder mehrsprachig zu erziehen. Wir hatten z. B. eine französische Kinderfrau, wir sprachen sehr bald französisch genauso gut wie deutsch. Später kam Englisch dazu und die Unterhaltung mit unseren Eltern bei Tisch oder am Abend nach dem Essen war meistens zwei- bis dreisprachig. Wir hatten damit die Grundlagen für spätere Auslandsreisen und auf die wurden wir geschickt, um [...] den Gesichtskreis für unser künftiges Leben über das eigene Dorf hinaus zu erweitern. Nach der Matura und dem Militärdienst ging ich zuerst für sechs Monate nach England, später, wie es der Fortgang des Studiums erlaubte, nach Frankreich, mit einigen Monaten in Paris, und knapp vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs für einige Monate an die Wirtschaftsuniversität von Florenz.
Im Großen und Ganzen sollte sich der adelige Besitz in den ehemaligen Kronländern Steiermark und Kärnten auch in der Zwischenkriegszeit als einigermaßen stabil erweisen. Garantiert wurde dies durch die nach wie vor bestehenden Fideikommisse, die erst nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten aufgelöst wurden. Doch selbst ein großer Forstbesitz, wie jener des älteren Zweiges der gräflichen Familie Lodron, dessen Fideikommiss Gmünd rund 14.000 Hektar umfasste, konnte erodieren. Die Bewirtschaftung der aus den ehemaligen Grundherrschaften hervorgegangenen Gutswirtschaften war konservativ und wenig innovativ und in vielen Fällen alles andere als nachhaltig. Betriebskapital zur Erschließung des Besitzes war selbst bei großen Einheiten wie dem Fideikommiss der Fürsten Porcia (17.000 Hektar) oder dem bereits genannten Fideikommiss Gmünd der Grafen Lodron nicht vorhanden. Überschlägerungen in Bereichen mit günstigerer Bringungslage waren die Folge. Waldwirtschaftspläne fehlten, im Unterschied zu den böhmischen Herrschaften. Auch die Anlage des Kapitals aus der Grundentlastung in neue Geschäftsfelder (wie Eisenbahn, Industrie) war nie erfolgt. Eine breite Streuung des Vermögens war demnach nicht vorhanden. Der Ertrag, der lukriert wurde, konnte den Aufwand zunehmend nicht mehr decken. 1932 stellte das Landesgericht Klagenfurt mit Blick auf das Fideikommiss in Gmünd fest, dass nach Bereinigung aller Forderungen für das Fideikommiss kein Betrag übrigbleibt [...] und nach durchgeführter Pekunialisierung kein wie immer geartetes Fideikommissvermögen vorhanden ist. Die wirtschaftliche Krisenzeit der 1920er Jahre und/oder Erbteilungen machte auch bei anderen Familien Verkäufe notwendig. Einschneidend waren die Maßnahmen, zu denen sich die Familie Herberstein gezwungen sah. Die schlesische Herrschaft Grafenort, mit der seit 1854 sogar ein Sitz im preußischen Herrenhaus verbunden war, wurde 1927 verkauft. 1939 veräußerte die Familie schließlich Schloss Eggenberg in Graz. Auch die Familie Meran trennte sich 1939 von ihrem Stadtpalais, das unter den geänderten Verhältnissen nicht mehr zu halten war. Häuser, wie ihr Grazer Palais, waren auf die Verhältnisse des 19. Jahrhunderts angelegt, in denen die entsprechenden Mittel vorhanden waren und zudem auch das notwendige Personal, um den Betrieb aufrecht zu erhalten. Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs war dies ohne Schwierigkeiten möglich gewesen. Die weibliche Dienerschaft (Köchin, Kammerjungfrau, Beschließerin, Küchenmädel etc.), [...] Kammerdiener und Gewehrputzer Großpapas, vier Diener, ein paar Burschen zum Silberputzen und zur Betreuung der Petroleumlampen, Kutscher und Roßknechte etc., [...] Erzieher und Lehrer [der Söhne], ein Kaplan, Gouvernanten, Lehrerinnen (auch Klavier- und Violinlehrerinnen), Fräuleins, Kindermädchen [...] hatten die Entourage der Familie gebildet, wenn man etwa von Graz in Richtung Brandhof aufbrach, wie sich der Meran-Enkel Nikolaus Harnoncourt erinnern sollte.
Verkäufe von Besitzteilen betrafen eine Reihe von innerösterreichischen Familien. Johannes Orsini-Rosenberg (1893–1932), der 1929 seinem Vater als Chef des fürstlichen Hauses und Majoratsherr gefolgt war, beurteilte die wirtschaftliche Lage kurz vor seinem Tod im Jahr 1932 als wenig günstig. Im Gästebuch seiner Oberkärntner Burg Stein vermerkte er: Gute Rückkehr unter den miserablen wirtschaftlichen Umständen zweifelhaft. Auch in den Folgejahren sollte sich die wirtschaftliche Lage nicht bessern. Die wirtschaftliche Situation war damals sehr angespannt und der Besitz konnte den Lebensunterhalt der Familie kaum decken. [...] [Die Lage] war damals allerdings so miserabel, dass etwa ab 1937 die Jagd und Burg Stein verpachtet wurden, hielt sein Sohn und Erbe Heinrich Jahrzehnte später fest.
Vor andere Probleme sah sich jener Teil des ehemaligen innerösterreichischen Adels gestellt, dessen Besitz nicht auf dem Boden der Republik lag. Zwar hatten – wie bereits vermerkt – auch die österreichischen Sozialdemokraten die Enteignung des Großgrundbesitzes im Rahmen einer Bodenreform gefordert, doch war eine Realisierung angesichts der realen machtpolitischen Verhältnisse in der Republik illusorisch. Anders war die Situation im neuen Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, zu dem nun das ehemalige Kronland Krain und die Untersteiermark gehörten. Deutlich wird dies an der Entwicklung, die der Besitz von Karl Fürst Auersperg (1859–1927) nahm. Einen Eintritt in den Verband des neuen Staates lehnte er ab. Er blieb – im Unterschied etwa zu Otto (Fürst) Windisch-Graetz (1873–1952) – österreichischer Staatsbürger. Die fideikommissarische Bindung von Auerspergs rund 23.000 Hektar großem Besitz wurde unmittelbar mit Gründung des SHS-Staates aufgehoben und der Besitz unter staatliche Kontrolle gestellt, mit dem Ziel, ihn in eine Agrarreform einzubeziehen. Die Verhandlungen über das Schicksal des Auerspergschen Besitzes zogen sich fast zwei Jahrzehnte hin. Im Fall der Auersperg einigte man sich schließlich auf eine Besitzgröße von rund 5.000 Hektar, die Karls Nachfolger und Enkel Karl Adolf (1915–2006) verblieben. Andere Mitglieder des weitverzweigten Geschlechts, wie die Grafen Auersperg auf Turjak, deren Besitz sich jedoch – im Unterschied zu dem der Vettern der fürstlichen Linie – stets auf das Krainer Gebiet beschränkt hatte, – wurden jugoslawische Staatsbürger. Nach Abschluss der Agrarreform verblieb diesem Zweig der Familie im Jahr 1931 rund 1.500 Hektar Forstbesitz, während 1.000 Hektar enteignet wurden.
Die politische Ausrichtung der Familien des alten Adels im SHS-Staat war jedoch eindeutig und ungebrochen prohabsburgisch, wie an einer von Louis Attems überlieferten Anekdote aus seiner Schulzeit illustriert werden soll. Über den von Hauslehrern vermittelten Lernstoff musste eine öffentliche Schlussprüfung abgelegt werden: Einmal – die Jahresprüfung war schon fast glücklich beendet – verlangte der Oberlehrer noch eine kurze Gesangsprüfung. „Singt die serbische Nationalhymne [...]” forderte der Schuldirektor. Die Buben [Louis und Franz Attems] sprangen auf und begannen kräftig das „Bože pravde [...]”. Der serbische Text klang fehlerfrei, doch in der Aufregung hatten die Prüflinge die Melodie der alten, österreichischen Kaiserhymne erwischt, die sich ganz leicht den slavischen Versen fügte. Papi [Ferdinand Attems], der wie gewöhnlich in eine der rückwärtigen Schulbänke eingezwängt, den Prüfungen beiwohnte, erstarrte vor Schreck. Bei der Prüfungskommission dauerte es etwas länger, dann aber rief [...] [der Schuldirektor] ungehalten: „Že dobro, že dobro – schon gut, schon gut!” und schnitt abrupt die Darbietung ab. Taktvoll wurde diese peinliche Verwechslung weder in den Zeugnissen noch sonst wie erwähnt.
Die neue Zeit brachte vor allem für die Töchter des alten Adels neue Möglichkeiten einer Aus- und Weiterbildung, die sich in manchem doch sehr deutlich von der der Generation ihrer Mütter und Großmütter unterschied. Für diese hatte sich der Unterricht, so er nicht ausnahmsweise in einem geistlichen Institut erfolgte, mit etwas Allgemeinbildung und Musikunterricht auf deren Vorbereitung für zukünftige Aufgaben als Familienmutter und Hausfrau beschränkt, wie Leopold Goëss einmal bemerkte. Dem Wunsch nach dem Besuch einer Mittelschule oder Universität mögen die einen oder anderen Eltern noch mit Verständnis begegnet sein, eine Berufstätigkeit sollte jedoch für weibliche Mitglieder der sog. Ersten Gesellschaft die Ausnahme darstellen. Beim Offiziers- und Beamtenadel war weibliche Berufstätigkeit bereits im alten Österreich – allein schon vor dem Hintergrund der schmalen ökonomischen Basis – eine Notwendigkeit gewesen.
Vor dem Hintergrund altaldeligen Selbstverständnisses war eine Berufstätigkeit von unverheirateten adeligen Frauen noch am ehesten in einem Sozialberuf akzeptabel. Karl Graf d‘ Avernas (1877–1966) auf Schloss Freibühel nahe Wildon gestattete dreien seiner Töchter den Besuch einer Krankenpflegeschule, der nach dem Erwerb des Diploms schließlich in einer vorübergehenden beruflichen Tätigkeit mündete. Noch in der Generation zuvor, wäre dies unmöglich gewesen. Bereits einen Schritt weiter konnte die 1914 geborene Christiane (Gräfin) Goëss (1914–2000) setzen, die als eine der ersten ihrer Generation und Herkunft ihr Studium mit dem Doktorat abschloss.
Das Ende der Monarchie hatte für zahlreiche Mitglieder des Adels auch einen beruflichen Bruch mit sich gebracht. Dies galt vor allem für die zahlreichen Berufsoffiziere, derer die Republik nicht mehr bedurfte. Die Vorbehalte, die der Adel gegen die junge Republik hegte, machte auch die Entscheidung jener Aristokraten deutlich, die bis dahin im diplomatischen Dienst gestanden war: Die meisten von ihnen quittierten nach 1918 ihren Dienst und zogen sich – wie Karl Graf Trauttmansdorff (1872–1951) auf Schloss Weissenegg bei Wildon – ins Privatleben zurück. Nur wenige Mitglieder des alten Adels blieben im Dienst der Republik. Zu diesen zählte etwa der aus Kärntner Fürstenhaus stammende Felix Orsini-Rosenberg (1886–1962), der 1937–1938 Kabinettschef des Außenministers war und seine Karriere 1952 als österreichischer Vertreter in Brüssel beschloss.
Mehr Kontinuität als in der Diplomatie sollte es nach 1918 in der Landesverwaltung geben, deren adelige Beamtenschaft jedoch im Regelfall nicht dem hohen Adel angehörte. Diese war vielmehr eine Domäne der sog. „Zweiten Gesellschaft”. An der Spitze der einzelnen Kron- und nunmehrigen Bundesländer brachte das Ende der Monarchie naturgemäß noch größere Veränderungen. Die Zeit der adeligen Landeshauptleute war vorbei, wenngleich der erste republikanische Landeshauptmann der Steiermark, der Rechtsanwalt Wilhelm von Kaan (1865–1945), noch einer im 19. Jahrhundert geadelten Familie entstammte. Auch Kärnten sollte in den Umbruchtagen des Jahres 1938 noch einmal einen Landeshauptmann mit adeligem Hintergrund erhalten, nämlich in der Person von Dr. Wladimir (von) Pawlowski (1891–1961), der von März bis Mai 1938 der erste nationalsozialistische Landeshauptmann Kärntens und von 1939–1940 Gauleiter war.
In der Ära Dollfuss kam es zu einer Annäherung zwischen der christlich-sozialen Partei und den österreichischen Monarchisten. Die betont kirchentreue Ausrichtung und Fundierung der neuen Verfassung in der kirchlichen Soziallehre und das rigorose Vorgehen gegen die parlamentarische und außerparlamentarische Opposition fanden in weiten Kreisen des Adels breite Zustimmung. Verstärkt fanden nunmehr Angehörige des Adels den Weg in die Politik. Bundeskanzler Kurt Schuschnigg entstammte selbst einer 1898 geadelten Offiziersfamilie mit Kärntner Wurzeln. Sowohl sein Kabinett wie jenes seines Vorgängers Dollfuss zählten mehrere Minister mit adeligem Hintergrund. Auch in der Landespolitik fanden sich verstärkt Adelige. Nach Errichtung des Ständestaates fungierte Egon (Freiherr) Berger (von) Waldenegg (1880–1960) als steirischer Landeshauptmannstellvertreter. Von 1934 bis 1938 übte diese Funktion – nunmehr unter der Bezeichnung Landesstatthalter – Barthold (Graf) Stürgkh (1898–1965), der Neffe des 1916 ermordeten Ministerpräsidenten Karl Stürgkh, aus. Dr. Franz (Graf) Meran, ein Urenkel Erzherzog Johanns und künftiger Chef des Hauses, wurde steirischer Landtagsabgeordneter.
Dem Anschluss an Hitlerdeutschland im März 1938 stand der österreichische Adel weitestgehend ablehnend gegenüber, Im Unterschied zum norddeutschen Adel war der katholische österreichische Adel – ähnlich dem in Süddeutschland – gegenüber der neuen Staats- und Rassenideologie resistenter, was zum Teil auch in der Ablehnung des radikalen Antiklerikalismus der Nazis seinen Grund hatte. Die Zahl jener aus dem Kreis des alten Adels, die mit dem neuen Regime sympathisierten, war gering. In den Augen ihrer Standesgenossen galt dies als weltanschauliche Verirrung, die man am besten mit Schweigen überging.
Die Frage nach dem Dienst in der deutschen Armee und der Bereitschaft und den Möglichkeiten zum Widerstand gegen das NS-Regime hat Leopold Goëss wenige Jahre vor seinem Tod so beantwortet: 1938, nach dem Ende Österreichs, [...] gab es für uns [...] nur drei Optionen: Auswandern – das wollte ich nicht, ohne viel Nachdenken war es für mich selbstverständlich, hier zu bleiben; in einen damals nicht vorhandenen Untergrund oder Widerstand gehen, das konnte ich nicht, da ich weder als Untergrundkämpfer noch als Märtyrer geeignet bin; blieb nur die dritte Option, hier zu bleiben und im Rahmen der geltenden Gesetze so gut wie möglich mit dem Leben fertig zu werden, und zu diesen Gesetzen gehörte auch die allgemeine Wehrpflicht.
Widerstand gegen das Regime formierte sich in den Kreisen der innerösterreichischen Aristokratie vor allem rund um den 20. Juli 1944. Das Kriegsende brachte – ebenso wie in der Tschechoslowakei und in Ungarn – auch in Jugoslawien das Ende der adeligen Welt, doch selbst jene Familien, deren ökonomische Basis zumindest einigermaßen intakt geblieben und stabil war, sahen sich nach 1945 vielfältigen Herausforderungen gegenüber
Quellen und in Literatur (in Auswahl):
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Steiermärkisches Landesarchiv: A. Attems, Familie und Herrschaft; Fideikommissakten; Partezettelsammlung; Porträtsammlung
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Kärntner Landesarchiv: Landesgericht Klagenfurt, Verlässe; Fideikommissakten; Adeliges Damenstift
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Lebenserinnerungen von Alois Auersperg, Heinrich Orsini-Rosenberg und Charlotte Keil-Meran (alle in Privatbesitz)
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Familienarchiv Steiner-Treuendorf (Privatbesitz)
- Leopold Goëss, „Adeliges Landleben und europäischer Geist” – was ist geblieben? In: Claudia Fräss-Ehrfeld, Lebenschancen in Kärnten 1900–2000. Ein Vergleich (Klagenfurt 1999), 99–109.
- Miha Preinfalk, Auersperg: Geschichte einer europäischen Familie (Graz 2006).
- Peter Wiesflecker, Aus der Geschichte der Familie d'Avernas im „langen” 20. Jahrhundert. In: Hengist-Magazin. Zeitschrift für Archäologie, Geschichte und Kultur der Mittelsteiermark (2/2012), 20–27.
- Peter Wiesflecker, Die Auflösung der adeligen Welt. Streiflichter zum innerösterreichischen Adel in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Zdeněk Hazdra/Václav Horčička u. a. (Hgg.), Šlechta střední Evropy v konfrontaci s totalními režimy 20. století / Der Adel Mitteleuropas in Konfrontation mit den totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts (Prag 2011), 47–72.
- Peter Wiesflecker, Fortschreibung der „Welt von gestern”? Der Kärntner Adel im 20. Jahrhundert – Ein Überblick. In: Peter Wiesflecker/Jože Kopeinig (Hgg.), Eliten in Kärnten (Klagenfurt/Celovec–Ljubljana/Laibach–Wien/Dunaj 2018), 37–64.
- Peter Wiesflecker, Sicherung standesgemäßer Existenz. Streiflichter auf den Gutsbesitz der Familie Meran. In: Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark 113 (2022), 175–244.
ArR Priv.-Doz. Mag. DDr. Peter Wiesflecker MAS, LL.M., MA, Studien der Geschichte, Archivwissenschaft, Geschichtsforschung und des Kirchenrechts in Wien und der Religionswissenschaften in Graz, seit 1998 wissenschaftlicher Beamter am Steiermärkischen Landesarchiv; Privatdozent für Österreichische Geschichte an der Universität Graz, Lehrbeauftragter für Archivwissenschaft an den Universitäten Wien und Graz sowie für Österreichische Geschichte/Archivwissenschaft an der Universität Klagenfurt. Mitglied der Historischen Landeskommission für Steiermark
Forschungsschwerpunkte: Österreichische Geschichte, Landesgeschichte, Adelsgeschichte, Kirchenrecht, Volkskunde und Archivwissenschaften