Wissenschaftsgeschichtliche Relevanzen steirischer Natur
Walter Höflechner
Aus dem Zentrum für Wissenschaftsgeschichte der Karl-Franzens-Universität Graz
Im Juni dieses Jahres wird zufälligerweise innerhalb weniger Tage zweier wissenschaftlicher Gegebenheiten zu gedenken sein, die eng mit der Stadt Graz verbunden waren und bleiben, ihr zur Ehre gereichen.
Am 9. Juni 2024 wird des 250. Geburtstages von Joseph von Hammer-Purgstall zu erinnern sein, der im damaligen Kälbernen Viertel, heute obere Neutorgasse, zur Welt kam, in Graz die Unterstufe des Gymnasiums absolvierte, dann in Wien an der Orientalischen Akademie als Dolmetsch und für den diplomatischen Dienst ausgebildet wurde und im Zuge einer Serie vermeintlich nachteiliger, tatsächlich aber in höchstem Maße glückhaften Entwicklungen sich als querköpfiger Steirer zu einem weltweit führenden Orientalisten, ja gewissermaßen zu einem Vater der modernen Orientalistik entwickelte, indem er die orientalischen Sprachen aus ihrer Bindung an die Theologie herauslöste und zu wissenschaftlichen Objekten per se machte, sich nicht nur sprachlich, sondern auch auf verschiedenen Ebenen kulturhistorisch mit den Sprachgebieten befasste und so den geistig-kulturellen Raum des Vorderen Orients zu erschließen unternahm: in der Poesie (beginnend mit der ersten vollständigen Übersetzung der Werke des persischen Dichters Hafis, die enormen Einfluss ausübte), von seinem Mentor Johannes von Müller gedrängt, in der Geschichtsforschung mit seiner bis heute im Orient wirksamen „Geschichte des Osmanischen Reiches” und der dieses flankierenden Staaten, in der Kulturgeschichte mit seinen Literaturgeschichten der Perser, der Osmanen und der Araber mit einer Fülle kleinerer kulturgeschichtlicher Darstellungen von der Bedeutung des Kamels bis hin zum Phänomen des Sufismus. Im Zusammenhang mit den Erfahrungen auf seinen beiden Reisen zu Beginn des 19. Jahrhundert und dem Erleben des Ungenügens der wissenschaftlich Gegebenheit im Lande hinter der chinesischen Mauer hat Hammer-Purgstall nicht nur die erste länger erscheinende internationale orientalistisch-wissenschaftliche Zeitschrift (die „Fundgruben des Orients”) begründet, sondern sich auch um Reformen im Bereich der Orientalischen Akademie und mehr noch der Hofbibliothek, am meisten jedoch (und das auf Grund seiner Hartnäckigkeit sehr erfolgreich) um die Gründung einer Akademie der Wissenschaften in Wien bemüht, die 1846 trotz langjährigen Widerstandes endlich erfolgt ist und als deren „geistiger Vater” er angesehen wurde, wie er auch ihr erster Präsident geworden ist.
Hammer hat 1835 – nach dem Tode der verwitweten letzten Gräfin Purgstall, mit der er gemeinsam mit seiner Frau Caroline hilfreich befreundet war – zu seiner Überraschung das Erbe dieses Geschlechtes angetreten mit der Verpflichtung, den Namen fortzuführen. In diesem Zusammenhang ist er in den Freiherrenstand erhoben worden und hat fortan im Sommer in Hainfeld gelebt. Wenn Hammer Berufes halber (als Dolmetsch und als Hofrat an der Staatskanzlei) in Wien gelebt hat, so war und blieb die Steiermark sein „Vaterland”, und wenn man ihm seine ungewöhnlich klare und offene Ausdruckweise vorhielt, dann pflegte er darauf zu verweisen, dass er ein Hammer sei, und ein steirischer noch dazu.
Der Philologe Johann Fück hat 1955 bei aller Kritik, die an Hammer in Bezug auf Details geübt worden ist, Jules Mohls Aussage von 1857 bestätigend, formuliert: Hammers Bedeutung [bleibt] von dem Umstande, daß die Arabistik des 19. Jahrhunderts über seine Werke hinweggeschritten ist, völlig unberührt. Es bleibt ihm das Verdienst, in Deutschland zu einer Zeit, in der die arabischen Studien in eine Sackgasse zu geraten drohten, das neue Orientbild unermüdlich und tatkräftig verkündet zu haben. Goethe hat [...] Hammers rühmend gedacht [, ...] Rückert ist durch ihn ins Persische eingeführt worden. Und welch größeres Glück könnte einem Manne beschieden sein, als in solch fruchtbarer Weise auf seine Mitwelt einzuwirken? Die Göttin der Philologie, die Hammers Einzelleistung auf ihrer untrüglichen Waage zu leicht befindet, muß ihm trotzdem den hohen Rang zuerkennen, den er in der deutschen Geistesgeschichte einnimmt. Fuat Sezgin hat in den Bänden seiner „Geschichte des arabischen Schrifttums” in zahllosen Zusammenhängen in beinahe schon stereotyper Formulierung des unermüdlichen österreichischen Gelehrten Hammer-Purgstall, den man fast unbedenklich als den produktivsten Arabisten aller Zeiten bezeichnen kann, gedacht, der in vielfältigsten Zusammenhängen als der erste europäische Gelehrte Texte wieder aufgefunden, in Europa bekannt gemacht, übersetzt, Themen aufgegriffen und zugänglich gemacht habe – von der Länderkunde über die Soziologie bis zur Astronavigation im Indischen Ozean, vom Sirat Antar über die Lyrik tausender arabischer, persischer und türkischer Poeten in seinen literaturgeschichtlichen Arbeiten bis hin zu einer Unzahl von historiographischen Manuskripten, die er als erster Europäer als Quellen für seine historischen Darstellungen benützt hat, und bezeichnete auch seine Geschichte der arabischen Literatur als ein „grandioses” Werk – in Österreich konnte man nahezu gleichzeitig an als höchst kompetent zu vermutender Stelle, erfahren, dass Hammer „gar nicht arabisch gekonnt” habe. Fuat Sezgin hat damit, [...] aus seinem enormen Überblick [...] heraus Hammer gleichsam als Heber des Schatzes erfasst und bewertet.
Dass wir nun über eine (hoffentlich) lesbare Biographie Hammer-Purgstalls verfügen, ist nicht auf das Jubiläum ausgerichteter Arbeit geschuldet, es hat sich vielmehr im Zusammenhang mit unserer seit Jahrzehnten anhaltenden Befassung mit Hammer auf Grundlage der enormen Quellenfülle, primär seiner Korrespondenz, und der Notwendigkeit einer der Übersicht halber nötigen und auch geforderten Zusammenschau des Erarbeiteten ergeben.
Zwei Tage vor Hammers 250. Geburtstag findet an der Universität Graz eine internationale Ehrung statt, die zweierlei betrifft: erstens den einst als grandios gefeierten Bau des vom Physiker August Toepler geplanten Physikalischen Instituts, eines Gebäudes, das durch und durch von einem erfahrenen Physiker und nicht von einem Architekten konzipiert wurde (wie das auch beim gegenüberliegenden Chemiegebäude, das Leopold von Pebal plante, der Fall war), und zweitens dessen ersten Nutznießer, nämlich den berühmten Physiker Ludwig Boltzmann, der praktisch alle seine wegweisenden Arbeiten zur Thermodynamik – gleichsam als Vollender der klassischen Physik – in den Jahren seiner zweiten Grazer Professur von 1876 bis 1890 in diesem Gebäude und in seinem Haus auf der Platte geschrieben hat. Diese Umstände haben bewirkt, dass die Europäische Gesellschaft für Physik dieses Gebäude als „Historic Site of Physics” bewertet und auszeichnen wird, was in einem Festakt am 7. Juni geschehen soll.
Boltzmann hat im Unterschied zu anderen führenden Physikern wie etwa Ernst Mach (übrigens ein Vorgänger Boltzmanns in Graz), aber auch zu französischen und englischen Physikern an der Atomtheorie festgehalten (die die Chemiker schon längst als selbstverständlich handhabten) und hat auch – vermutlich als erster – die Idee einer distinkten, quasi „atomistischen” Struktur der Energie, ja selbst der Zeit in Betracht gezogen. So galt er als the last pillar, als der letzte Pfeiler der heute außer Streit stehenden Atomtheorie.
Die Jahre in Graz waren die glücklichste Zeit in seinem Erwachsenenleben. Als er 1887 den als unabweisbar eingeschätzten Ruf nach Berlin, der nachmaligen Hauptstadt der Physik, erhielt, kam seine schon zuvor erkennbar gewordene psychische Labilität zum Ausdruck, die ihn Berlin, wo er schon ernannt war, ablehnen, dann nach München, von dort nach Wien, dann weiter nach Leipzig und wieder zurück nach Wien gehen ließ, wo er noch die Nachfolge Machs in der Lehre der Naturphilosophie übernahm, während er doch in schweren depressiven Schüben an grundlegenden Elementen seiner physikalischen Auffassungen zweifelte. Die fundamentalen Neuerungen Max Plancks und Albert Einsteins hat er kaum mehr wahrgenommen und so ist er, der Sieger der großen Diskussion grundlegender physikalischer Auffassungen, insbesondere der Atomtheorie, in Lübeck 1895 verstummt. 1906 hat Boltzmann den Schritt getan, den man schon länger befürchtet hatte.
Niemand geringerer als Hendrik Antoon Lorentz schrieb 1907 über ihn: Boltzmann war ein Führer unserer Wissenschaft, ein Bahnbrecher in manchen Richtungen, ein Forscher, der auf jedem Gebiete, das er betrat, unvergängliche Spuren seiner Wirksamkeit hinterlassen hat.
Neuerscheinung:
Walter Höflechner (unter Mitarbeit von Alexandra Wagner, Gerit Koitz-Arko und Sylvia Kowatsch), Joseph Freiherr von Hammer-Purgstall. Ein Leben für die Wissenschaft (= Veröffentlichungen der Historischen Landeskommission für Steiermark 44, Graz 2023), xxvii+579 Seiten ( Inhaltsverzeichnis)
Das Buch ist im Buchhandel und bei der HLK (Karmeliterplatz 3, 8010 Graz, 0316/877-3013, hlk@stmk.gv.at) um € 57,- erhältlich.
Literatur und Quellen
Projekt: Joseph von Hammer-Purgstall. Briefe, Erinnerungen, Materialien am Zentrum für Wissenschaftsgeschichte der Karl-Franzens-Universität Graz.
Walter Höflechner (Hg), Ludwig Boltzmann. Leben und Briefe, Graz 1994, 771 Seiten (= Publikationen aus dem Archiv der Universität Graz 30, = Veröffentlichungen der Historischen Landeskommission für Steiermark 37, = Ludwig Boltzmann Gesamtausgabe 9, hg von Roman U. Sexl)
Walter Höflechner, Zu den Anfängen der modernen Physik in Graz. Das Physikalische Institut Toeplers und Ludwig Boltzmann. Aus Anlass des Festaktes am 7. Juni 2024 (in Vorbereitung).
Univ.-Prof. i. R. Dr. h. c. Dr. Walter Höflechner MAS, geb. 1943 in Cilli/Celje (Slowenien), Studium der Geschichte an der Karl-Franzens-Universität in Graz (1968 Promotion zum Dr. phil. sub auspiciis praesidentis) und am Institut für österreichische Geschichtsforschung der Universität Wien (Staatsprüfung 1968). 1974 Habilitation, 1977 Extraordinarius Neuen Typs, 1998 Universitätsprofessor für Österreichische Geschichte, 1983–1992 auch Leiter des Universitätsarchivs, 1999–2004 Dekan der Geisteswissenschaftlichen Fakultät sowie 2002/03 Vorsitzender des Gründungskonvents der Karl-Franzens-Universität Graz gem. UOG 2202. 2005–2009 Leiter des Zentrums für Wissenschaftsgeschichte. Seit 1981 Mitglied der HLK, 1997 bis 2019 Mitglied im Ständigen Ausschuss der HLK.