Choralquellen in der Grazer Zentralbibliothek der Franziskaner, speziell die Offizien des Julian von Speyer
Franz Karl Praßl
Die Grazer Zentralbibliothek der Franziskanerprovinz Austria zum Heiligen Leopold in Österreich und Südtirol[1] verwahrt nicht wenige Choralquellen vom Beginn des 14. Jahrhunderts weg bis zum 19. Jahrhundert. In der Forschung wurden diese Handschriften und Drucke bislang wenig beachtet, bekannter sind die Quellen zur barocken franziskanischen Figuralmusik durch die Forschungen von Ladislav Kačic.[2] Es soll in diesem Beitrag eine Übersicht über das vorhandene Material gegeben werden, ein Einblick in einige Details der Choralpflege des Ordens in Graz während des 18. Jahrhunderts und ein Rückblick auf die Präsentation eines CD-Projektes mit der Aufnahme des Franziskusoffiziums des Julian von Speyer.
Die handschriftlichen Quellen werden in der Klosterbibliothek an zwei verschiedenen Standorten unter verschiedenen Signaturen der Hauptgruppen A und S aufbewahrt. Sie sind erschlossen durch einen maschinschriftlich vorliegenden Katalog,[3] der den Charakter einer Checkliste hat. Eine weitere Erschließung der mittelalterlichen Bibliotheksbestände erfolgte durch den Katalog von Franz Lackner.[4] Die 53 spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Choralhandschriften hingegen wurden in einem von Robert Klugseder geleiteten Projekt[5] an der Abteilung Musikwissenschaft der Österreichischen Akademie der Wissenschaften zwischen Juni 2023 und August 2024 vollständig digitalisiert und stehen zum Studium für jedermann online zur Verfügung.[6]
Wir geben zuerst einen Überblick zum vorhandenen Handschriftenbestand, soweit es Choralquellen betrifft, und dann einen Überblick zu den gedruckten Choralbücher. Die Beschreibung orientiert sich an den Bibliothekskatalogen und an eigenen Beobachtungen.
Knapp ein Drittel der Quellen, welche hier in einem eigenen PDF eingesehen werden können, stammt aus dem 15. und 16. Jahrhundert, zwei Drittel sind aus dem 17. und 18. Jahrhundert und bilden somit auch einen repräsentativen Bestand zur Beschäftigung mit dem heute wenig beachteten Barockchoral.
Ein Blick in die Antiphonarien der Grazer Klarissen und Franziskaner des 15. Jh. zeigt ein gewohntes Bild: Neben dem gängigen Standardrepertoire[7] an Antiphonen und Responsorien finden wir die im Orden üblichen Versoffizien wie Dreifaltigkeit (AH 5/1), Antonius (AH 5/42), Clara (AH 5/54), Stigmata Sancti Francisci (AH 26/13), Franciscus (AH 5/61), Ludovicus Rex (AH 26/94).
Das älteste Graduale aus Maria Lankowitz (vor 1332) ist in einer etwas ungenau wirkenden Quadratnotation geschrieben, bei der vor allem die vielen oft unlogischen Trennstriche zwischen den einzelnen Gruppenneumen auffallen. Manche Texte zeigen noch partikulare liturgische Archaismen. So ist z. B. der Vers zum Introitus Rorate caeli desuper nicht der gewohnte Vers Psalm 18,1, sondern die unmittelbare biblische Fortführung des Textes vom Chorstück, genommen aus Jes 45,8: Et iustitia oriatur simul, ego Dominus creavi eum. Interessant sind die Spuren einer lebendigen, sich ständig erneuernden Liturgie anhand der späteren Zusätze. Das Alleluia des Franziskusfestes (4. Oktober) O patriarcha pauperum wird für zwei weitere Gelegenheiten „adaptiert". Unter dem Haupttext des Alleluiaverses stehen zwei weitere von zwei verschiedenen Händen geschriebene Verse: O consolatrix Maria und Uix piorum hominum dokumentieren die weit verbreitete Praxis der mehr oder weniger geglückten Paraphrasierung diverser liturgischer Texte.[8] (Abb. 1)
Im Graduale vom Anfang des 16. Jahrhunderts A 64/38 sieht man das ordenseigene Messproprium für das Fest Immaculata Conceptio, das die Franziskaner bereits 1263 eingeführt haben. Während diözesane Missalien, so sie das Fest überhaupt schon enthalten, einen allgemein verwendeten marianischen Introitus wie z. B. Gaudeamus omnes in Domino (mit der Variante: de cuius conceptione) vorsehen,[9] haben die Franziskaner an dieser Stelle den Introitus Egredimini et videte filiae Sion reginam vestram, der auch noch in den barocken Drucken als franziskanisches Eigengut erhalten geblieben ist. Dieser Gesang ist eine bessere Variante als jener neogregorianische Gesang in den heutigen Druckausgaben. (Abb. 2)
Von besonderem liturgischen Interesse sind die Choralhandschriften des 18. Jahrhunderts. Im Unterschied zu den Drucken sind sie meist ein getreues Spiegelbild der tatsächlichen liturgischen Praxis und erlauben in einer Gesamtschau eine genaue Rekonstruktion der mit Gesang gefeierten Gottesdienste. Dies betrifft den Umfang des in den einzelnen Horen wirklich Gesungenen und erlaubt einen Einblick in jene Hausbräuche, nach denen in der Abstufung des Gesangs der Rang eines Festes sichtbar wird. Auch das Verhältnis zwischen Choral und Figuralmusik bildet sich in diesen Büchern ab. In Graz selbst kann man all dies – und noch mehr – im perfekten Übereinstimmen diverser Bücher wie Orgelbuch (S 1/18 und S 1/20, beide 18. Jh.), Intonationsbuch des Zelebranten für die feierliche Vesper (S 1/25, 1753) und Antiphonale (S 1/44 und S 1/45, 18. Jh.) sehen.
Die beiden Orgelbücher sind ein Kompendium des zu Begleitenden für ein gesamtes liturgisches Jahr, vor allem für Tagzeitenliturgie, Litanei und Volksandachten. Sie enthalten im Generalbassstil ausharmonisierte gregorianische Gesänge wie (marianische) Antiphonen, Hymnen, Responsorien usw. Tabellarisch ist die Begleitung der gewöhnlichen Psalmodie sowie des Magnificat abgefasst. Zu den einzelnen Antiphonen diverser Vespern etc. sind die Tonarten für das Präambulum sowie die Anfangstöne der Antiphonen angegeben. Im Unterschied zur Quadratnotation des Antiphonale zeigt die normale Notation auf fünf Linien die tatsächliche Praxis der Leittonerhöhungen im Sinne der musica ficta. Im Beispiel sieht man den Franziskushymnus Plaude turba paupercula in der Schreibweise des Orgelbuchs mit der Wendung A-Gis am Ende der Wörter Plaude und turba, das Antiphonale S 1/45 zeigt die „normale" Choralnotation mit der Clivis A-G. (Abb. 3 und 4)
Instruktiv ist auch die Aufführungspraxis des Te Deum. Die Intonation erfolgte wiederum mit „Leittonerhöhung", also E-GIS-A, was für heutige Ohren eher ungewöhnlich klingt. Auf die Intonation folgte anstelle des gesungenen Verses Te Dominum confitemur ein Orgelversett („Präambulum"). Te aeternum Patrem wurde gemächlichen Schrittes gesungen, es folgte wieder ein Versett usw. Hier lebte die Alternatimpraxis Choral-Orgel noch weiter als eine Form bescheidenerer Feierlichkeit. (Abb. 5)
Das Orgelbuch enthält auch die wenigen gängigen deutschen Kirchenlieder, welche die Gemeinde im Laufe eines Jahres gesungen hat. Es sind dies im Maria Lankowitzer Orgelbuch S 1/20 Ave Maria klare (Advent), Der Tag, der ist so freudenreich (Weihnachten), Da Jesus an dem Kreuze stund (Fastenzeit), Christ ist erstanden (Ostern), Komm, Heiliger Geist, mit deiner Genad (Pfingsten), Gegrüßt seist du, Francisce; O du Mutter voller Gnaden (4 Melodien) sowie das Lankowitzer Prozessionslied Hochgelobt und das Sonntagslied (Predigtlied) Im Nam des Vaters und des Sohns. Das Buch beinhaltet ebenso für die Vespern die figural gesungenen Hymnen, welche auch im Antiphonale in einer rhythmisch relevanten Notation stehen. Als Beispiel vergleiche man den Hymnus Ave maris stella, der in der österreichischen Provinz mit einer beschwingten ariosen Melodie gesungen worden ist. (Abb. 6)
Das handgeschriebene Antiphonale des 18. Jahrhunderts (S 1/44 und S 1/45) ist eigentlich ein Auszug aus einem vollen Antiphonar mit nur jenen Gesängen, die gemäß den Usancen der Provinz tatsächlich beim Stundengebet gesungen worden sind.[10] Das Buch kennt unterschiedliche Stufen im Umfang des Gesangs: Alle Horen (bei den kleinen Horen nur die Non) werden (wie in der Matutin teilweise) nur an höchsten Festen wie am Franziskusfest gesungen. An höheren Festen (z. B. Antonius von Padua, Berhardin von Siena, Joseph) sind dies die Vespern, die Laudes und die Non. Bei rangniedrigeren Festen werden die Vespern nur ab dem Capitulum gesungen. An gewöhnlichen Sonntagen und an kleineren Festen singt man nur die Canticaantiphonen. Diese Ordnung zeigt, wie die Musik und weniger der Text liturgischen Rang konstituiert und ausdrückt. Das Antiphonale stimmt in Anordnung und Repertoire, aber auch in den figuralen Gesängen mit dem Orgelbuch sowie mit dem Intonationsbuch des Zelebranten überein.
Sonstige handgeschriebene Choralbücher sind typische Gebrauchshandschriften für Kleriker. Ein Chorallehrbuch (S 1/22) enthält vor allem die Gesänge des Zelebranten (Lektions- und Orationstöne, Intonationen für Gloria und Credo, Benedicamus Domino und Ite missa est usw.). Bedeutsam sind ferner die Prozessionalien mit den Gesängen für diverse Prozessionen, die auch konkret auf die örtlichen Gegebenheiten bestimmter Klöster abgestimmt sind.
Neben den Choralhandschriften gibt es nicht wenige Choraldrucke – Gradualien und Antiphonarien –, welche Einblick in die Choralproduktion (nicht unbedingt -praxis) gewähren. Die Bücher stammen meist aus venezianischen Druckereien wie Cieras, Balleoni, Pezzana oder aus der Druckerei Mayr aus Salzburg. Die Liste der Choraldrucke kann hier abgerufen werden.
Gemäß den nachtridentinischen liturgischen Büchern sind die Folianten meist zweiteilig, dem allgemeinen Graduale der römischen Liturgie z. B. ist ein franziskanischer Anhang beigebunden, oft auch aus anderen Druckjahren. Diese Gradualien bzw. Antiphonare enthalten dann im Anhang neben dem franziskanischen Kalender alle Eigengesänge, darunter sind die zahlreichen neu komponierten Offizien für jene Ordensheilige, die seit dem Ausgang des Mittelalters kanonisiert worden sind.
Große Pläne mit der Herausgabe eigener liturgischer Bücher hatte der Salzburger Erzbischof Maximilian Gandolf. 1683 erschien in der Salzburger Druckerei Mayr das Psalterium mit den Ferialantiphonen und den Hymnen, 1685 wurden bei Mayr gleich zwei Hymnare aufgelegt: das Hymnar mit den unter Urban VIII erneuerten Texten für den römischen Ritus samt einem gedruckten Anhang für die drei Zweige der franziskanischen Gemeinschaft und zusätzlich noch ein eigenes Hymnar für die franziskanischen Ordenszweige, in dem die Hymnen des römischen Breviers und der franziskanischen Eigenfeste ineinander verwoben waren. Dieses eigene Hymnar zeugt von der Bedeutung des franziskanischen Lebens innerhalb der Salzburger Metropolie. Dem Vorwort des Psalteriums von 1683 gemäß sollten noch ein Antiphonale und ein Graduale folgen, es kam aber nicht mehr dazu. Ein Vergleich der beiden Hymnare von 1685 zeigt, dass der franziskanische Anhang zum diözesanen Hymnar und das eigene Franziskanerhymnar durchaus Differenzen aufweisen, in Einzelfällen sogar andere Melodien. Die Redaktion dieses Unternehmens war anscheinend alles andere als sorgfältig.
Bemerkenswert ist auch, dass die handschriftliche Tradition aus Graz für den Franziskushymnus Plaude turba paupercula eine andere Melodie (vgl. Beispiele oben) vorsieht als das Salzburger Hymnar. Die Variabilität im Musikalischen war offenbar noch im 18. Jahrhundert räumlich relativ kleingliedrig.
Zu beachten ist zudem das Verhältnis zwischen der italienischen (Druck-)Überlieferung und der österreichischen handschriftlichen Tradition bei den musikalischen Fassungen von Antiphonen und anderen Gesängen für die franziskanischen Eigenfeste vom Ausgang des Mittelalters weg bis ins 18. Jahrhundert. Während z. B. bei den klassischen Versoffizien des Ordens für Franziskus oder Antonius eine stabile internationale Überlieferung zu beobachten ist, finden wir bei neueren Festen für ein und dieselben Texte unterschiedliche Melodien. Im Rahmen dieses Beitrags können wir dieses Phänomen nur konstatieren, aber der Frage nicht näher nachgehen. Als Beispiel sei die Psalmenantiphon zur Vesper vom Fest des Heiligen Didacus (12. November) erwähnt: Das Antiphonale von Pezzana hat eine Melodie im 1. Modus, die bestimmte klassische Formeln wie die tief liegende Intonation aufgreift. Das Grazer Antiphonar beginnt ebenfalls im ersten Modus, aber mit einer anderen Intonationsformel und führt die Melodie völlig anders weiter.
Der Überblick zeigt, dass die vorhandene lokale Choralüberlieferung des Franziskanerordens trotz einer guten Quellenlage noch weitgehend eine terra incognita ist. Viele Fragen tun sich auf, einige konnten exemplarisch angedeutet werden. Während die österreichische Musikgeschichte in den imperialen Zentren und in den klösterlichen Zentren der monastischen Ordensgemeinschaften vor allem in Hinblick auf die Figuralmusik des 18. Jahrhunderts relativ gut bekannt ist, liegt in Bezug auf die liturgisch-musikalische Praxis der weit verbreiteten Mendikanten und ihrer Klientel vieles im Dunkeln.
Die Reimoffizien des Julian von Speyer für die Ordensheiligen Franziskus und Antonius
Zu den wichtigsten Schöpfungen innerhalb der Eigenliturgie des Franziskanerordens zählen die Reimoffizien des Julian von Speyer ofm (*? – ca. 1250), der auch zu den Seligen des Ordens zählt. Julian wurde in Speyer geboren, er studierte an der Universität von Paris und wurde Kapellmeister am Hof der französischen Könige Philipp II. und Ludwig VIII. Um 1225 schloss sich der kundige und anerkannte Berufsmusiker Julian dem von Franz von Assisi (1181–1226) nur zögerlich gegründeten und 1210 von Papst Innozenz III. bestätigten Orden der Minderen Brüder („Minoriten") an, er trat in den Konvent von Paris ein und führte im Orden seine literarische wie musikalische Tätigkeit weiter, u. a. in Paris als magister chori und corrector mensae. 1230 war er wahrscheinlich bei der feierlichen Grablegung des schon 1228 heilig gesprochenen Franz in der neu errichteten Basilika San Francesco im Convento sacro in Assisi anwesend. Zwischen 1232 und 1235 schrieb er die Legenda Sancti Francisci, eine Biographie mit zahlreichem hagiographischen Material. Zwischen 1229 und 1235 entstand das Reimoffizium Franciscus, vir catholicus, das textlich eng mit der Legenda verbunden ist. Die Vita Sancti Antonii über Antonius von Padua (1195–1231) schrieb er zwischen 1235 und 1240, daran schloss sich die Komposition des Reimoffiziums Sancti Antonii zwischen 1241 und 1246 an.
Das Reimoffizium (= Historia) zu Ehren des Hl. Franciscus erhielt seine quasi kanonische Gestalt nach geringfügigen Änderungen durch den hl. Bonaventura da Bagnoregio (eigentlich Giovanni di Fidanza, 1221–1274) um 1260. Diese Version scheint auch in den Grazer Antiphonarien auf. Die Melodien stammen alle von Julian. Als Komponist von Historiae wirkte er in einer Periode, in der dieses Genre in voller Blüte stand, das Franziskusoffizium darf als ein musikalisches Highlight dieser Gattung gelten. Ein Reimoffizium besteht aus Antiphonen und Responsorien der Tagzeitenliturgie (Stundengebet) in Form von kleinen vierzeiligen oder bis zu achtzeiligen meist gereimten Gedichtstrophen, während normalerweise Antiphonen und Responsorien in Kunstprosa abgefasst sind. So lautet z. B. die erste Antiphon der ersten Vesper am Festtag des Heiligen (4. Oktober):
Franciscus, vir catholicus / et totus apostolicus, / Ecclesiae teneri / fidem Romanae docuit, / presbyterosque monuit / prae cunctis revereri.
„Franziskus, der katholische und ganz apostolische Mann, lehrte zu wahren den Glauben der römischen Kirche und mahnte, vor allen die Priester zu ehren."
(Hörbeispiel 1: Ant. Franciscus vir catholicus)
Die erste Vesper am Vorabend des eigentlichen Festtages enthält sechs solcher Antiphonen, die sich wie üblich mit den für einen Heiligen bestimmten Psalmen verbinden. Der Nachtgottesdienst, Matutin genannt, beginnt mit einer einleitenden Antiphon zum Psalm 94 (95), der zum täglichen Lob Gottes auffordert (Venite exsultemus – „Kommt, lasst uns jubeln"). Die Matutin ist sodann in drei Abschnitte, Nokturnen (= Nachtwachen) genannt, aufgeteilt. Jede Nokturn enthält nach dem römischen Ritus drei Psalmen mit ihren Antiphonen sowie drei Lesungen mit ihren großen Responsorien, das sind insgesamt neun Antiphonen und neun Responsorien. Die Laudes (das Morgengebet) enthält wiederum sechs Antiphonen. Zu den Tageshoren (Prim, Terz, Sext, Non) wird üblicherweise eine der Laudesantiphonen wiederholt, sehr häufig werden bei der zweiten Vesper die Psalmenantiphonen der ersten Vesper gesungen, sodass nur für das Magnificat eine eigene (den Zyklus abschließende) Antiphon vorhanden ist. So besteht ein einigermaßen „volles" Reimoffizium aus insgesamt 22 gedichteten Antiphonen und neun Responsorien. Dies ist ein Zyklus, der textlich das Leben, die Spiritualität, die Eigenarten und die Wunder eines oder einer Heiligen besingt. Solche Zyklen haben im Mittelalter die Kenntnis über Heilige wesentlich mehr geprägt als die zahlreichen Legenden.
Von besonderer Bedeutung für die Wahrnehmbarkeit des Zyklischen ist die musikalische Machart. Die musikalische Anordnung ist traditionell. Antiphonen wie Responsorien folgen dem herkömmlichen Zyklus des Oktoechos (System der acht Kirchentöne): Die erste Antiphon steht im ersten Ton, die zweite im zweiten Ton usw. Auf diese Weise werden für die erste Vesper sechs Töne gebraucht (fünf Psalmen und Magnificat). Mit dem Nachtgottesdienst (Matutin, meist zusammen mit den Laudes gefeiert) beginnt die Serie von Neuem. Insgesamt finden wir gemäß dem säkularen (= römischen) Ritus neun Antiphonen für die Matutin, die letzte steht also wieder im ersten Ton. Das Gleiche gilt für die Responsorien des Nachtgottesdienstes. Üblicherweise hat man im Officium der römischen Kurie und ebenso bei den Franziskanern nur acht Responsorien gesungen (Töne I–VIII). Wir haben aber auch das neunte Responsorium, welches sich in der Handschrift direkt anschließt und wiederum im ersten Ton steht, ebenfalls mitberücksichtigt. Die Antiphonen für die Laudes (fünf Psalmen und Benedictus) stehen in den Tönen II bis VII, für die Magnificatantiphon der zweiten Vesper wird der VIII Ton verwendet.
Fast der gesamte Tonraum der gregorianischen Skala wird im Laufe des Offiziums ausgenutzt, neben sehr ruhigen Gesängen stehen sehr emotional bewegte, neben sehr tiefen sehr hohe. Während die Antiphonen meist im syllabischen, aber auch im oligotonischen Stil verfasst sind, nähern sich die Responsorien dem melismatischen Stil an. Kennzeichnend für eine musikalische Interpretation von Texten in diesen Gesängen der gregorianischen Spätzeit ist, dass ein Melisma den Wortakzent eines wichtigen, sinntragenden Wortes trägt. Grundsätzlich sind die Gesänge so gebaut, dass deren inhaltliche Sinnspitzen melodisch hervorgehoben sind und auf modal starken Stufen stehen. Auch die Emotionalität der verwendeten Psalmtöne hat eine Relation zu den Texten.
CD-Projekt zum Franziskusoffizium des Julian von Speyer
(Hörbeispiel 2: Resp. Audit in Evangelio)
Dem Franziskusoffizium ist in der im September 2024 erschienenen CD auch die Feier des Transitus beigegeben, der frühneuzeitlichen ordenseigenen Feier „zum Übergang", also zur Todesstunde des Heiligen am Vorabend des 4. Oktober, die bis heute begangen wird. Diese beginnt mit dem Psalm 142(141) Voce mea ad Dominum clamavi, den Franziskus gemäß der Legenda in seiner Todesstunde gesungen haben soll. Er ist mit der Antiphon O sanctissima anima eingerahmt. Auf die Lesung aus der Legenda des Julian über den Tod des Heiligen folgt die Antiphon Salve, sancte Pater samt einigen Abschlussgebeten.
Die letzten Beigaben der CD sind zwei Alleluia zum Fest des Hl. Franziskus aus dem Graduale von Maria Lankowitz A 64/34, vor 1332, sowie die Sequenz Laetabundus Francisco decantet chorus aus der Handschrift 36 der UB Graz.
Eine Übernahme der Melodien des Julian für das Franziskusoffizium enthält das Reimoffizium für die Heilige Klara Iam sanctae Clarae claritas (Hörbeispiel 2: Antiphona Iam sanctae Clarae claritas) („der Glanz der heiligen Glänzenden"), dessen Texte von einem unbekannten Autor stammen. Die Texte sind auch teilweise eine Kontrafaktur des Franziskusoffiziums. Die im Jahr 2010 anlässlich des Klara-Jubiläums entstandene CD enthält die Version des Grazer Franziskanerantiphonars A 64/40. Sie wurde unter damals günstigen Arbeitsbedingungen von den Frauen der Choralschola des Instituts für Kirchenmusik und Orgel der Kunstuniversität Graz eingesungen.
Die Aufnahme der Franziskus-CD wurden von den Herren der Grazer Choralschola gestaltet. Anlass waren die Jubiläumsjahre des Franziskanerordens 2023–2026 (erste Krippe in Greccio, Entstehung des Sonnengesangs, Stigmata des Heiligen Franziskus und Todesjahr 1226).
Anmerkungen
[1] Vgl. dazu: https://franziskaner.at/ordensgeschichte/ (3.11.2024).
[2] Vgl. dazu: Ladislav Kačic (Hg.), Plaude turba paupercula. Franziskanischer Geist in Musik, Literatur und Kunst. Konferenzbericht Bratislava, 4.–6. Oktober 2004. Slavistický ústav Jána Stanislava SAV (Bratislava 2005).
[3] Maria Mairold/Didacus Sudy, Manuskripte und Manuskript-Fragmente in der Bibliothek des Franziskanerklosters in Graz, Franziskanerplatz 14 (maschinschriftliches Manuskript Graz 1993).
[4] https://manuscripta.at/lib_cat.php?cat=GRZOFM (3.11.2024). Franz Lackner, Katalog der mittelalterlichen Handschriften bis zum Ende des 16. Jahrhunderts in der Zentralbibliothek der Wiener Franziskanerprovinz in Graz. Unter verantwortlicher Mitarbeit von Nataša Golob, Alois Haidinger und Maria Stieglecker (= Österreichische Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse, Denkschriften 336, = Veröffentlichungen der Kommission für Schrift- und Buchwesen des Mittelalters II,9, Wien 2006.)
[5] https://www.cantusplanus.at/de-at/austriaca/ofm/index.html bzw. https://www.oeaw.ac.at/de/acdh/forschung/musikwissenschaft/forschung/dokumentation-quellenforschung/franziskanische-choralhandschriften (3.11.2024)
[6] https://viewer.acdh.oeaw.ac.at/viewer/search/-/-/1/-/DC%3Aofmgraz/ (3.11.2024)
[7] Vgl. S.J.P. van Dijk, Sources of the Modern Roman Liturgy, 2 Bde. (Leiden 1963); S.J.P. van Dijk, Ursprung und Inhalt der franziskanischen Liturgie des 13. Jh. In: Franziskanische Studien 51(1969), 86–116.
[8] O patriarcha und O consolatrix sind verzeichnet und beschrieben bei: Karlheinz Schlager, Alleluia-Melodien II ab 1100 (= Monumenta Monodica Medii Aevi 8, Kassel 1987), 703–711. Es scheint der marianische Vers der Stammvers zu sein.
[9] So z. B. das Missale Salisburgense 1492, fol. CCXLII.
[10] Irenäus Tomasz Toczydłowski ofm, Das gesungene Stundengebet bei den Grazer Franziskanern in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Diplomarbeit, KF-Uni Graz 2005.
Em. Univ.-Prof. Mag. Dr. Franz Karl Praßl, geb. 1954 in Feldbach, studierte Katholische Theologie (Promotion 1987), katholische Kirchenmusik (Orgel bei Ernst Triebel), Chorleitung und Dirigieren in Graz. 1982–1992 Domorganist in Klagenfurt, 1982–1989 auch Kirchenmusikreferent der Diözese Gurk. Professor für Gregorianik an der Kunstuniversität Graz bis 2022, 2011–2024 auch Professor für Gregorianik am Pontificio Istituto di Musica Sacra in Rom. 1999–2011 Präsident der Internationalen Arbeitsgemeinschaft für Hymnologie. Mitglied der HLK seit 2017.
Tonträger
Clarae Claritas. Offizium und Messe am Hochfest der heiligen Klara von Assisi aus dem Franziskanerkloster Graz. Choralschola des Instituts für Kirchenmusik und Orgel der Kunstuniversität Graz, Leitung: Franz Karl Praßl. Franziskanerkloster Graz, CD ofm-1, 2010.
Franciscus vir catholicus. Reimoffizium des Julian von Speyer für den heiligen Franciscus von Assisi sowie Teile aus dem Messproprium seines Festtages und die Feier des Transitus. Grazer Choralschola, Leitung: Franz Karl Praßl. 2 CD's, Franziskanerkustodie Schweiz. © und (P) 2024.
Die CD's sind erhältlich unter: jubilaeum@franziskaner.ch